Horror im Advent

Horror im Advent

Joachim Schnell – Dezember 2000

Als Albert den Fahrstuhl verlässt und den Frühstücksraum betritt, sieht er blass aus und stützt sich schwer auf seinen Stock. Von allen Seiten wird ihm ein freundliches „Guten Morgen“ zugerufen. Doch der Mann ist völlig abwesend und reagiert auf keinen Gruß. Er setzt sich ächzend auf seinen Stammplatz an der Stirnseite des langen Tisches.

Die anderen Elf, mit denen er jede Mahlzeit gemeinsam einnimmt, sind bereits beim Frühstück und verstummen, als sie den sonst so fröhlichen Mann anblicken, der völlig verstört und mit Schweißperlen auf der Stirn auf seinem Platz hockt.

„Wat is’n los, Albert?“, ruft ihm Otto, sein langjähriger Freund vom anderen Ende der Tafel zu: „Du siehst ja aus, als hätts de nen Jeist jesehn“.

Corinna, die kleine, zierliche Frau, die neben Albert sitzt, legt besorgt ihre Hand auf die seine: „Geht es dir nicht gut? Sollen wir einen Arzt kommen lassen?“

Albert erwacht aus seiner Lethargie und blickt alle am Tisch traurig an: „Kommt denn keiner von euch selbst darauf?“

Als ihn alle nur stumm und fragend ansehen, fährt er fort: „Meine erste Beschäftigung an jedem Morgen ist es, das Kalenderblatt des vorigen Tages abzureißen…“

„Wahnsinn“, lacht Otto auf: „Und dabei ist dir…“

„Heute ist Freitag, der 1. Dezember“, fährt Albert unbeirrt fort: „Übermorgen ist der erste Advent.“

Schlagartig wird es im ganzen Raum still, denn Albert hat die letzten Worte mit seiner gewohnt kräftigen Stimme ausgesprochen. Am Nachbartisch scheppert es heftig. Jemandem ist vor Schreck die Kaffeetasse entfallen.

„Ach du Schei…“, entfährt es Otto, der nun gleichfalls blass aussieht.

Die Küchenfrau, die in diesem Moment mit zwei Thermoskannen frisch gebrühten Kaffees eintritt, blickt irritiert auf die Schar schweigender, alter Leute. Bevor sie allerdings fragen kann, was denn passiert sei, bricht die Hölle los.

Einige springen auf. Durcheinander redend wirbeln sie durch den Raum. Andere vergraben ihren Kopf in den Händen, und es sieht aus, als ob sie zu schluchzen beginnen.

Rufe wie: „Um Gottes Willen, ist es schon wieder so weit..?“, oder: „In diesem Jahr lassen wir uns das nicht mehr gefallen“, sind zu hören.

Eine dicke Frau kreischt: „Nie wieder Rudi Schuricke“, während Otto in tänzelnden Schritten durch den Raum schwebt und vor sich hin trillert:
„Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt
und der Müllberg dort hinterm Weinberg zum Himmel stinkt.“

Entsetzt krampfen sich die Hände der Küchenfee fester um die Kaffeekannen. Sie wendet sich um und stürzt in das Büro des Heimleiters. Als sie die Tür öffnen will, prallt sie mit diesem zusammen.

„Was gibt es denn Frau Müller; was soll dieser Lärm?“

„Ich weiß nicht Herr Direktor, deshalb wollte ich sie ja holen. Irgend etwas regt die alten Leutchen fürchterlich auf.“

Der Heimleiter geht mit großen Schritten auf den Frühstücksraum zu. An der Schwelle bleibt er abrupt stehen und schaut verwirrt auf die Szene. Noch immer wild gestikulierend reden alle durcheinander. Als sie den Direktor an der Tür stehen sehen, verstummen zwar einige, aber eine kleine Gruppe eilt auf ihn zu.

Voran Otto, den Zeigefinger der rechten Hand ausgestreckt auf den Bauch des Direktors gerichtet, der unglücklich einen Schritt zurück weicht. Dahinter die dicke Dame, die noch immer: „Nie wieder Rudi Schuricke“ kräht. Auch Albert, der mit seinen 192 Zentimetern und 120 Kilogramm etwas Bedrohliches hat und jetzt auch noch mit seinem Stock herum fuchtelt, gehört dazu.

Der Chef des Hauses gibt sich einen Ruck: „Aber meine Herrschaften“, ruft er verzweifelt, um eine feste Stimme bemüht: „So beruhigen sie sich doch. Was ist denn eigentlich passiert?“

„Advent steht vor der Tür und dann kommt och noch Weihnachten. Det is passiert!“, stößt Otto erbost hervor.

Der Heimleiter blinzelt irritiert: „Ja natürlich, Advent, und wir haben auch wieder viel vorbereitet. Wir werden es ihnen, wie in jedem Jahr, so richtig gemütlich machen.“

„Nur det nich“, stöhnt Otto, während die Dicke erneut loslegt: „Nie wieder Rudi Schu…“

Otto stopft ihr sein Frühstücksbrötchen in den Mund, das er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte.

„Nu lass doch mal den ollen Schuricke, Adelheid“, knurrt er die Frau erbost an: „Hier jeht et um mehr.“

„Ja aber worum denn nur?“

Jetzt mischt sich Albert ein: „Darum, dass sie uns nicht wieder vorschreiben, wie wir die Advents- und Weihnachtstage zu verbringen haben…“

„…die Blagen von der Jrundschule nebenan uns jeden Sonntag mit ihren Liedchen quälen, uns beim jemütlichen Kaffeetrinken stören, vom Bundesliga Kieken abhalten oder vom Surfen im Internet“, unterbricht Otto ihn.

Der Heimleiter sieht Otto überrascht an: „Sie verstehen etwas vom Internet? Davon weiß ich ja gar nichts.“

„Det jeht sie auch ja nichts an. Sie halten uns Olle doch sowieso alle für bekloppt.“

„Aber ich bitte sie…“

Otto fährt unbeirrt fort: „Wenn die Jören alle die Weihnachtslieder jeschmettert haben, die man schon jar nich mehr hören kann, weil die einem in jedem Kaufhaus, bei jedem kleenen Krauter, so lange um de Ohren jedudelt werden, bis ma vor lauter Rührung seine letzte Mark och noch für Kinkerlitzchen ausjejeben hat, erwarten se dafür dann auch noch ne dolle Belohnung.“

„Aber das ist doch verständlich. Die geben sich doch solche Mühe.“

„Vonwegen Mühe, die wollen doch alle nur unsere Kohle“, mischt sich jetzt Albert wieder ein: „Genau wie unsere lieben Familien, die uns hier ins Heim für Friedhofsgemüse verfrachtet haben. Pünktlich zur Weihnachtszeit fällt denen ein, dass da ja noch welche sind, zu denen man ein wenig nett sein sollte. Schließlich könnte es ja sein, hoffentlich bald, dass es irgend etwas zu erben gibt.“

Der dicken Adelheid ist es inzwischen gelungen, das Brötchen herunter zu würgen. Sie schnappt nach Luft, um dann wieder ihre schrille Stimme zu erheben: „Und zu allem Überfluss nerven sie uns jedes Jahr mit diesen scheußlichen, gemütlichen Musikabenden.“

„Jenau“, pflichtet Otto bei: „Die Caprifischer-Jeneration is fast ausjestorben. Jetz is Elvis anjesagt und de Beatles-Stones-Jeneration drängt och schon jewaltich nach. Aber det hat sich bis hier noch nich rumjesprochen.“

Allgemeiner Applaus!

Doch der Angesprochene blickt pikiert: „Beatles, Rolling Stones, mit denen bin ich aufgewachsen, und ich bin gerade mal 50 geworden.“

Corinna blickt ihn mitleidig an: „Na und? Die paar Jahre haben sie schnell hinter sich gebracht und dann wechseln sie den Chef- mit dem Fernsehsessel.“

„Ick jedenfalls“, Otto ist nicht zu bremsen: „habe auf meine ollen Tage nich det Computern jelernt, um mir dann anöden zu lassen. Ick jeh lieber im World-Wide-Web zu Sankt-Pauli-Nachrichten.de.“

„Ferkel“, wirft Corinna entrüstet ein: „Aber sich von seinen Söhnen erzählen zu lassen, wie schlecht es ihnen geht, sie mir daher leider nichts zu Weihnachten schenken können, sie sich aber freuen würden, wenn ich ihnen eine Kleinigkeit, so etwa 30.000 Mark, zu ihrem neuen Auto rüber reichen würde.“

„Bei mir ist das nicht anders.“ In Elses Augen, die bisher etwas abseits stand, schimmern Tränen: „Den ersten Weihnachtswunschzettel erhielt ich schon im August: einen Computer, das neueste Modell natürlich. Dabei habe ich meinem Enkel schon im vorigen Jahr einen gekauft. „Aber der ist inzwischen völlig out Oma“, wurde mir erklärt: „Mit dem kann man ja gar nichts mehr machen.““

„Und meine Schwiegertochter erzählt mir neulich so ganz beiläufig, dass sie beabsichtigen, zu bauen. Und wenn ich mich ein wenig an den Kosten beteiligen könnte, würde sicher ein Zimmerchen für mich abfallen.“

„So wie Otto und Else geht es den meisten von uns.“ In Corinnas Augen stehen Tränen: „Kaum jemand von uns ist freiwillig hier. Als wir unseren Haushalt nicht mehr schafften, wurde überlegt, wohin mit den Alten. Unsere Kinder hatten keinen Platz, keine Zeit, kein Geld, um uns aufzunehmen.“

„Ick wollt da sowieso nich hin“, wirft Otto ein: „Und jetz, wo wir hier im Wartesaal zur letzten, jroßen Reise sitzen, fällt man rejelmäßig an den Adventswochen hier ein und macht in Familie.“

Albert geht ganz nah an den Direktor heran, der dem Ausbruch seiner Schützlinge fassungslos zugehört hat. Das, was Albert dann aber heraus bringt, gibt ihm den Rest: „Wir haben uns schon frühzeitig mit dem Problem befasst, und wir sind zu einem Entschluss gekommen.“

„Und wie sieht der aus?“

„Wir wollen keinen Familienbesuch, keine Liedchen trillernden Schulklassen, keine Weihnachtsfeier mit immer den gleichen verstaubten Schallplatten. Wir wollen nur eins, unsere Ruhe.“

„Und selbst entscheiden, was wir zu Weihnachten machen“, pflichtet Adelheid bei.

„Wenn sie uns det nich jarantieren, werden wir die Einjänge zum Haus verbarrikadieren“, trumpft Otto auf.

Tosender Applaus!

„Das wäre ja nahezu eine Revolte.“ Hilfe suchend schaut sich der Direktor in der Runde um. Schweißperlen kleben nun auf seiner Stirn.

„Oder wir alle machen uns über die Feiertage dünne“, wendet Otto ein.

„Sollen wir vielleicht alle nach Honolulu fahren?“, kichert die dicke Adelheid.

Alberts Augen beginnen zu blitzen, und man sieht ihm an, dass er eine seiner grandiosen Ideen hat: „Das ist gar kein schlechter Gedanke. Warum soll man die vermaledeiten Feiertage nicht im warmen Süden verbringen?“

„Wer hat so viel Kohle, wer hat so viel Jeld?“, trillert der alte Josef aus seiner Ecke.

Das Argument zählt, und das wissen alle.

Albert geht nun einige Schritte auf die Anderen zu: „Dieses Jahr werden wir aktiv werden. Die Adventszeit ist bekanntlich die Zeit, wo die Leute bereitwillig ihre Geldbörsen öffnen.“

„Ja, für alle möglichen Kinkerlitzchen, aber doch nicht für uns“, krächzt Josef und schaut missmutig in die Runde.

Der Direktor hat sich inzwischen gesetzt und betrachtet nun das Schauspiel argwöhnisch.

„Wie ist das Otto, spielst du noch immer ein wenig Saxophon?“

„Na jedenfalls besser, als du auf deiner Quetschkommode“, wendet Otto ein.

„Das wäre ja schon eine Grundlage für unsere Band, das „Duo Infernale““, spottet Adelheid und schlürft ihren noch immer heißen Kaffee.

„Na, und so ein paar Tränensäcke füllende Songs haben wir doch auch noch drauf.“

„Dann brauchen wir aber och noch ein paar fesche Mädels, die für uns die Stimmakrobatik übernehmen“, kichert Otto, dem diese Idee zunehmend gefällt.

Ein lautes Stimmengewirr beherrscht nun den Raum, und so manch einer will seine verborgenen Künste zum Besten geben.

Man beschließt, die Einkaufspassagen und Fußgängerzonen aufs Korn zu nehmen.

Als etwas Ruhe eingetreten ist, entfährt es der Küchenfrau: „Und was machen wir, wenn nun alle ausgeflogen sind?“

„Mal Sonderurlaub“, rufen alle im Chor.

(c) Joachim Schnell (Erben) / Berlin

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Titel Horror im Advent

BLAutor – Arbeitskreis blinder und sehbehinderter Autoren – www.blautor.de

Veröffentlicht von Christiane Quenel I. A. Blautor

Mein Name ist Christiane Quenel. Als Autorin bin ich die Paula Grimm. Als Sprecherin des Arbeitskreises blinder und sehbehinderter Autorinnen und Autoren (BLautor) bin ich seit Ende 2021 auch verantwortlich für die Webseite von BLautor.