Türchen 2, 2024
Der Sternenpflücker
Von Bettina Hanke
„Guckt mal, der dort!“ Ich deute unauffällig auf diesen unglaublich gut aussehenden Typen, der sich in der Nähe des Bratwursthäuschens herumtreibt. „Das ist er!“
Lisa gibt ein anerkennendes „Oh!“ von sich, während Olivia nur angestrengt zu dem Typen hinstarrt. Sie sieht ziemlich dämlich aus, wie sie so mit offenem Mund dasteht und versucht, etwas zu erkennen.
„Brille!“, zische ich und tippe auf ihre Hand, in der die beschlagene Brille baumelt.
„Ach ja“, murmelt sie und reibt endlich die Gläser sauber. Manchmal erweckt sie den Eindruck, mit der Brille auch ihren Verstand abzusetzen. Dabei ist sie mit Abstand die Klügste von uns dreien.
„Den muss ich unbedingt endlich kennenlernen!“, sage ich und seufze.
Wir postieren uns vor dem Glühweinstand, so dass wir den Typen im Auge behalten können. Zur Tarnung und gegen die Kälte kaufen wir uns jede einen Glühwein.
„Was tigert der eigentlich dauernd hin und her?“, wundert sich Lisa.
„Vielleicht wartet er drauf, dass die Bratwürste schön braun gebraten sind“, mutmaße ich.
„Quatsch!“ Olivia schüttelt energisch ihren Kopf und guckt uns durch ihre Brille an. Ihre kleinen Äuglein blitzen belustigt. „All die anderen bekommen doch auch Bratwürste. Warum also sollten ausgerechnet für ihn keine fertig sein?“
Ich brumme zustimmend. Natürlich hat sie Recht. Wie meistens.
„Ich glaube“, fährt sie fort, „er wartet nicht auf ein Paar Bratwürste. Sorry, Mirjam! Ich glaube, er wartet auf ein Paar knackige Frauenbeine!“ Sie grinst schief.
Lisa schaut an uns runter. „Welche meinst du?“
Olivia und ich stöhnen gleichzeitig auf. „Lisa“, sage ich und in meiner Stimme liegt dieser mahnende Ton, den ich an mir nicht mag, „Olivia meint nicht, dass er auf uns wartet! Er hat ein Date!“ Diese Erkenntnis vermiest mir beinahe die gute Laune.
„Oder eine feste Freundin, so gut wie der aussieht“, ergänzt Olivia.
Ich werfe ihr einen düsteren Blick zu. Muss sie immer gleich das Schlimmste annehmen? Meine Stimmung nähert sich der Temperatur um uns herum an.
„Schade!“ Lisa seufzt abgrundtief, dann kippt sie den Glühwein in sich rein als wäre es Wasser. Warum seufzt jetzt sie? Was geht Lisa der Typ an?
Immerhin habe ich ihn entdeckt! Schon vor Wochen! Also bin ich diejenige, die enttäuscht sein darf! Und zwar ausschließlich ich! Ich spüle den aufkeimenden Ärger mit Glühwein runter. Weg damit!
Wir beobachten den Typen weiter. Nach der dritten Runde Glühwein beschließen wir, dass ihn seine Freundin versetzt hat und wir ihn ein bisschen trösten müssen. Also vor allem ich.
Trotz der feuchten Kälte, die durch die Kleidung kriecht, ist mir jetzt wohlig warm und ich bin bereit zu jeder Heldentat.
Lisa und Olivia empfinden offenbar genauso, denn sie setzen sich in Bewegung. Wehe, sie rühren den Typen an!
Ich stolpere hinter ihnen her. Der Alkohol steigt mir zu Kopf. Ich bin einfach nicht im Training. Na ja, die Weihnachtsmarktsaison hat gerade erst begonnen, ich habe also noch reichlich Zeit zu üben.
Nur, dass mir das in diesem Augenblick herzlich wenig nützt. Ich bin unterwegs in einer wichtigen Mission. Ich muss eine wunde Seele mit meiner Liebe heilen.
Olivia dreht sich zu mir um. „Sag mal, du bist doch nicht von dem bisschen Glühwein schon besoffen?“ Sie runzelt ihre Stirn.
Eingehakt zwischen Lisa und Olivia geht es viel besser. Meine zwei besten Freundinnen manövrieren mich unfallfrei durch die Menschentrauben, die ständig anzuwachsen scheinen.
„Also, wer will alles Bratwürste?“, fragt Olivia viel zu laut, als wir fast neben dem Typen stehen.
„Ich“, sagt Lisa.
„Ich glaube“, jammere ich, „mir ist schlecht!“ Um mich dreht sich alles. Ich verspüre einen unglaublichen Hunger, aber der Grillgeruch dreht mir den Magen um. Krampfhaft bemühe ich mich darum, den Glühwein in mir zu behalten.
Lisa zieht mich weg von der Schlange, die sich am Bratwurststand gebildet hat. Gerade noch rechtzeitig biegt sie mich in eine gebückte Haltung und drückt meinen Kopf nach unten.
Meine Hüfte steckt in einem Schraubstock und in meinem Kopf schwirren tausend Insekten. Vor meinen Augen vollführen Pflastersteine wilde Tänze. Der Glühwein klatscht auf die Steine, die sich einfach nicht beruhigen wollen.
Mir ist jetzt alles egal. Die Pflastersteine schießen auf mich zu, etwas kneift mich in die Seiten, dann versinke ich in einem seligen Nichts.
„Mirjam!“ Etwas rüttelt an mir.
Lasst mich in Ruhe. Ich will nichts hören. Nichts sehen. Das Dröhnen in meinem Kopf nicht spüren.
„Ein vom Himmel gefallener Engel“, dringt eine Stimme durch den Nebel in mein Bewusstsein. Eine fremde Stimme. Eine tiefe, wohlklingende Stimme.
Nun reiße ich doch die Augen auf. Starre in den finsteren Himmel. Sehe nichts. Keinen Engel. Keinen Mond. Keine Sterne. Wo sind sie nur geblieben?
„Die Sterne haben sich hinter Wolken verkrochen, um sich dein Elend nicht angucken zu müssen“, kichert Lisa.
Hab ich meine Gedanken denn laut ausgesprochen? Entsetzt lasse ich meine Augen auf der Suche nach Lisa herumirren. Zuerst kann ich nur verschwommene Gesichter ausmachen, die dicht an dicht über mir hängen wie ein Heiligenschein.
Verwirrt kneife ich die Augen zusammen, bis sie nur noch einen schmalen Schlitz breit geöffnet sind. Ja, jetzt ist es besser!
Über mir, wie am anderen Ende eines Rohrs, das drohend schwarze Firmament. Drum herum ein heller Kranz aus Gesichtern, die besorgt auf mich herniederblicken. Bekannte Gesichter. Und ein völlig fremdes.
Träume ich? Oder sind das wirklich Britta und Annabel? Was machen die hier? Und wer ist dieser Schnurrbart, der sich jetzt bewegt?
„Da warte ich nichts ahnend auf meinen Bruder“, sagt der Schnurrbart, „Und dann tut sich der Himmel auf und ein Engel fällt mir direkt vor die Füße!“ Der Schnurrbart lächelt und zeigt schneeweiße Zähne.
Im nächsten Moment schwebe ich in die Höhe. Zwei starke Arme halten mich und zwei maronenbraune Augen sehen mich unverwandt an. Ich spüre Wärme, die mich einhüllt wie ein dicker Nikolausmantel.
„Da ist kein einziger Stern!“, lalle ich. Etwas Besseres fällt mir nicht ein.
„Das Leben ist nicht gerecht!“, höre ich von irgendwo hinter mir Lisa jammern, „Da kotzt sie dem Typen fast auf die Füße und zum Dank landet sie in seinen Armen! Dabei habe ich …“
„Ja, ja! Du hast sie vor Schlimmerem bewahrt! Hättest Du nicht so schnell reagiert, wäre der Typ jetzt klatschnass!“ Das ist Olivias Stimme und sie klingt belustigt.
Ich deute auf den Himmel, der wie ein dunkler Deckel über der Stadt hängt. „Da ist kein einziger Stern!“, wiederhole ich mich und komme mir ungeheuer geistreich vor.
„Das liegt daran“, sagt der Typ und zieht breit grinsend etwas aus seiner Jackentasche, „dass ich sie alle für einen wundervollen Engel gepflückt habe! Einen Engel, der seit ein paar Wochen um mich herum fliegt und flattert. Der aber bisher immer Reißaus genommen hat, wenn ich ihm zu nahe gekommen bin.“
„Einen Engel?“, frage ich irritiert und schaue mich um.
Olivia kichert und verdreht dabei die Augen. Keine Ahnung, was sie mir damit sagen möchte.
„Ja. Einen Engel“, erwidert der Schnurrbart und seine Maronenaugen tauchen tief in mich hinein. „Denn nur wahre Engel vertragen keinen Glühwein!“
Ich starre in dieses unglaubliche Braun und kann es nicht fassen. Habe ich mich verhört?
Aber nein; seine Hand öffnet sich direkt vor meiner triefenden Nase. In der Hand liegen glitzernde Sterne aus feinen Goldfäden.
Er schenkt mir ein unwiderstehliches Lächeln. „Für Dich! Dir hole ich sogar die Sterne vom Himmel!“
Geschenkideen von BLAutor
Drei Anthologien hat unser Arbeitskreis bis jetzt gemeinsam verfasst, und an zwei weiteren haben mehrere unserer Mitglieder mitgewirkt. diese sollten in keinem Bücherregal fehlen.
- Blind Verliebt
ist die neueste im September 2024 erschienene Anthologie des Schreibzirkels BLAutor.
31 AutorInnen mit Sehbeeinträchtigung beleuchten das Thema auf ganz unterschiedliche Weise. Lassen Sie sich in eine Welt der besonderen Art entführen. - Abenteuerliche Anekdoten blind erlebt
ist der Titel unserer zweiten Anthologie, die im Oktober 2023 im Edition Paashaas Verlag als Taschenbuch und iBook auf dem Buchmarkt erschienen ist.
Dank einer Buch-Patenschaft, die eines unserer Mitglieder übernommen hat, ist auch diese Anthologie mittlerweile aufgelesen worden und somit in den Hörbüchereien für blinde Menschen ausleihbar. - „Farbenfrohe Dunkelheit“
ist der Titel unserer mittlerweile zwei mal preisgekrönten ersten BLAutor-Anthologie, die 2022 im Edition Paashaas Verlag als Taschenbuch und iBook erschienen ist und als Hörbuch produziert wurde und bei den Hörbüchereien für blinde Menschen ausgeliehen werden kann. - Anthologie Weihnachtszauber, 39 einfach schöne Weihnachtsgeschichten
Es muss ja nicht gleich ein komplett eigenes Buch sein. In einer Anthologie finden sich stets mehrere Autor:innen mit ihren Geschichten zu einem Thema zusammen, um dann gemeinsam ein Buch zu füllen.
Der Pashaas-Verlag rief zur Teilnahme an dieser Weihnachts-Anthologie auf. Fünf unserer Mitglieder schafften es, ihre Geschichten dort zu veröffentlichen. - Weihnachtsmodus an, mit Autor:innen des Arbeitskreises und anderen
Und hier ist die fünfte Anthologie, die der Pashaas-Verlag mit 20 Autor:innen, fünf aus unserem Arbeitskreis, herausgegeben hat.
Es ist eine Weihnachtsanthologie der besonderen Art.
Nähere Informationen über die jeweils mitwirkenden Author:innen erfahren Sie unter
Vitae und Werke.
Und nun kommt noch ein Hinweis auf einen Adventskalender der besonderen Art:
Der Blindnerd-Adventskalender
Unser blindes Mitglied Gerhard ist blinder Hobbyastronom und das einzige blinde Mitglied der Deutschen Astronomischen Gesellschaft. Seit sieben Jahren führt er den Blog Blindnerd.de. In diesem Jahr widmet sich sein Adventskalender ganz den kosmischen Wundern.
Der Blautor-Adventskalender und der Blindnerd-Adventskalender sind überkreuz verlinkt, so dass man von jedem aus zu den jeweiligen Türchen des anderen springen kann.
Mit
diesem Link gelangen Sie und ihr auf diesen etwas außergewöhnlichen Weihnachtskalender.
Türchen 2, 2023
Engelshaar
von Brigitte Kemptner
Das Licht in dem schäbigen Häuschen am Rande des Dorfes wurde zeitig gelöscht, weil die Familie wenig Geld hatte und Strom sparen musste. So war die Küche der einzige Raum, in dem ein Holzfeuer für angenehme Wärme sorgte.
Wie an jedem Abend der vergangenen Wochen zündete Karina auch zwei Tage vor Heiligabend ein paar Kerzen an, die sie aus Wachsresten selbst herstellte und las im Schein des flackernden Lichtes ihren beiden Kindern eine Weihnachtsgeschichte vor. Mara und Lara waren gute Zuhörer und hatten sich dicht an ihre Mama gedrängt, bis diese das Buch zuklappte.
„Schluss für heute“, sagte sie liebevoll. „Ich mache uns noch eine Scheibe Brot und einen Becher warme Milch, dann geht ihr schlafen.“ Eine halbe Stunde später lagen Mara und Lara fest aneinander gekuschelt in dem schmalen Bett und die Augen fielen ihnen nach wenigen Minuten zu.
Karina stand währenddessen am Küchenfenster und starrte in die Finsternis. Es schneite seit den frühen Abendstunden sehr heftig und sie war voller Sorge um ihren Mann Johannes. Hoffentlich passierte ihm nichts, wenn er gegen Morgen zu Fuß heim kam. Er arbeitete als Nachtwächter in einer Lagerhalle. Viel verdiente er dabei nicht und so hatte sich Karina verschiedene Putzstellen besorgt. Doch das Geld reichte trotzdem noch nicht und deshalb freuten sie sich über jede Kleinigkeit, die ihnen freundliche Mitmenschen schenkten.
Mara und Lara hatten keine Freunde. Sie wurden von den Dorfkindern gehänselt und beschimpft, weil sie immer in geflickten, abgetragenen und schäbigen Kleidern herumliefen. Aber die Familie hielt trotz ihrer Armut fest zusammen und sie freuten sich auf das Weihnachtsfest. Große Geschenke gab es auch in diesem Jahr keine, doch Karina kaufte für wenig Geld Dinge, von denen der handwerklich geschickte Vater die tollsten Sachen bastelte.
Am nächsten Morgen war der Himmel wolkenlos, die Luft roch frisch, doch es war eiskalt. Karina saß mit Mara und Lara in der warmen Küche, während der Vater im kalten Schlafzimmer tief schlummerte. Er war erst vor zwei Stunden heimgekehrt.
Als die Kinder nach dem Frühstück die Köpfe in ihre Malbücher steckten, kochte Karina die Suppe, bevor sie zur Arbeit ging. Johannes musste das Essen nur noch aufwärmen, wenn er ausgeschlafen hatte. Karina schmerzte es jedes Mal in der Seele, die beiden fünf- und sechsjährigen Töchter allein zu lassen und war deshalb froh, dass die freundliche ältere Dame von nebenan nach ihnen sah.
Es dämmerte gerade, als Karina wieder nach Hause kam. Die Kerzen brannten bereits und sie wunderte sich sehr darüber.
„Man hat uns den Strom abgestellt“, begrüßte Johannes sie.
Deshalb jetzt schon die Kerzen, dachte Karina traurig. Glücklicherweise war ein größerer Vorrat davon vorhanden.
Da Karina keinen Tee zum Abendbrot kochen konnte, erwärmte sie die Milch, die ihr die nette Frau aus dem Lebensmittelladen geschenkt hatte, auf der Holz-Feuerstelle.
Nachdem der Vater zur Arbeit aufgebrochen war, löcherten die Kinder ihre Mutter, ihnen eine neue Geschichte aus dem Weihnachtsbuch vorzulesen. Jedoch es kam nicht dazu, denn es klopfte ziemlich heftig an der Haustür. Die drei Menschen blickten sich erschrocken an.
Wenn das nur nicht der Hausvermieter ist, dachte Karina mit Entsetzen. Wieder klopfte es.
„Willst du nicht aufmachen, Mami?“, drang Mara`s Stimme an ihr Ohr. Die Mutter erhob sich und wenig später öffnete sie mit klopfendem Herzen.
Draußen in der Kälte stand nicht, wie vermutet, der Vermieter, sondern ein junges Mädchen, eingehüllt in ein dunkles, bis zu den Knöcheln reichendes Cape, mit Kapuze.
„Guten Abend, habt ihr vielleicht ein warmes Plätzchen für mich? Ich komme von sehr weit her und meine Füße sind schon ganz durchgefroren.“
Mara, Lara und die Mutter blickten gleichzeitig auf die kleinen, nackten Füße, die in Sandalen steckten und Karina fand es recht seltsam, dass jemand zu dieser Jahreszeit noch offene Schuhe trug.
Sie gaben die Tür frei und ließen die späte Besucherin herein. In der Küche schob das Mädchen die Kapuze vom Kopf und eine Flut langer blonder Haare ergoss sich über die Schultern. Mara und Lara sahen sie mit kugelrunden Augen an. „Sie sieht aus wie der Engel in unserem Weihnachtsbuch“, flüsterte Mara ihrer Schwester zu.
„Quatsch“, erwiderte Lara, „Engel haben doch Flügel und sie nicht.“
Das junge Mädchen lächelte den Kindern freundlich zu: „Ich heiße Anna und wie heißt ihr?“
Nachdem Mara und Lara ihre Namen genannt hatten, gingen sie in ihre kleine Spielecke. Sie tuschelten unentwegt miteinander.
Karina bat ihren Gast, am Küchentisch Platz zu nehmen und holte ein paar warme, selbst gestrickte Socken. „Die Wolle kratzt zwar etwas, aber die Füße werden gleich warm werden“, sagte sie und reichte sie der Fremden.
Ein feuerfestes Gefäß, gefüllt mit Milch, stand kurze Zeit später auf dem Holzofen und als sie warm genug war, tranken alle einen Becher. Dazu aßen sie von dem leckeren Kuchen, den die nette Nachbarin am Mittag vorbeigebracht hatte.
Karina hielt es für das Beste, wenn Anna bei ihnen die Nacht verbrachte und bot ihr das Bett der Kinder an.
„Mara und Lara können bei uns schlafen“, meinte die Mutter, doch Anna schüttelte den Kopf. „Das kommt überhaupt nicht in Frage. Die Kinder brauchen ihr Bett. Ich lege mich auf die Bank hier in der Küche. Es macht mir wirklich nichts aus.“
Karina merkte, dass Anna sich keineswegs umstimmen ließ und gab nach.
Damit es Anna nicht ganz so unbequem auf der harten Bank hatte, legte Karina eine Wolldecke darauf und gab ihr noch eine zum Zudecken. Bevor die Kinder allerdings ins Bett gingen, wollten sie unbedingt einmal Annas Haare anfassen. Karina entschuldigte sich für diese recht außergewöhnliche Bitte ihrer Sprösslinge, doch das junge Mädchen lächelte nur und meinte: „Natürlich dürfen die Kinder es anfassen.“ Und zu den Mädchen gewandt fragte sie: „Habt ihr denn noch nie solche Haare gesehen?“
Mara und Lara schüttelten ihre Köpfe und ein einstimmiges „Nein“ ertönte. Vorsichtig griffen ihre Hände in das Goldhaar des Mädchens.
„Es fühlt sich so weich an“, meinte Mara und Lara stimmte ihr zu.
„Ja und richtig zart. Mami, wie in der Geschichte von dem Engel, die du uns vorgelesen hast.“
Wenig später lagen die Geschwister im Bett. An Schlaf war allerdings noch nicht zu denken, denn die junge Anna mit dem Engelshaar ging ihnen nicht aus dem Sinn.
Heiligabend! Johannes war in der Nacht etwas früher heimgekehrt und saß nun mit seiner Familie beim Frühstück. Es fiel nicht sehr üppig aus, und trotzdem teilten sie es mit Anna.
Karina arbeitete an diesem Tag nicht. Zwar gab es in ihrem Hause keine großen Weihnachtsvorbereitungen zu treffen, trotzdem wollte sie den Kindern das Fest so schön wie nur irgend möglich machen. Johannes holte frische Tannenzweige aus dem Wald und Karina bastelte einen schönen Kranz, verzierte ihn mit Tannenzapfen, kleinen Figuren, die ihr Mann aus Holzstückchen schnitzte, Kastanien, die die Kinder schon im Herbst gesammelt hatten und getrockneten Blüten. Sie befestigte die Kerzen und stellte das fertige Werk auf den Küchentisch.
So verging der Vormittag und Anna blieb bei ihnen. Mara und Lara schwirrten ständig um sie herum und waren ganz ausgelassen und fröhlich. Das junge Mädchen erzählte ihnen eine Geschichte und sie sangen ein Lied miteinander.
Zur Mittagszeit kam die nette Nachbarin mit einem Topf dampfender Hühnersuppe vorbei, schenkte den Mädchen Schokolade und wünschte ihnen allen ein frohes Fest.
Zu fünft machten sie sich über sie Suppe her und bald war der Topf bis auf den letzten Tropfen leer. Am Nachmittag kam das Unheil in Gestalt des Vermieters. Er fand es nicht einmal für nötig, der Familie frohe Weihnachten zu wünschen, sondern ging sofort auf sein Ziel los.
„Gleich nach den Feiertagen räumen Sie das Haus, ich habe schon neue Mieter dafür gefunden. Ich hoffe, Sie haben mich verstanden.“ Der Mann schenkte der Familie keinen freundlichen Blick und wollte gleich wieder gehen, als Anna ihm den Weg versperrte.
„Was gibt’s denn noch?“, brummte der Mann unfreundlich, doch schon im nächsten Augenblick brachte er kein Wort mehr über seine Lippen.
„Schämen Sie sich denn nicht, arme Leute, die nichts haben, außer einem guten Herzen an einem Tag wie diesem davonzujagen? Haben Sie keine Seele in der Brust? Haben Sie niemals über den Sinn der Weihnachtszeit nachgedacht? Was sind Sie nur für ein Mensch, der sich am Geburtstag des Heilands so unmenschlich zeigt?“ Anna hatte mit ruhiger, fast sanfter Stimme gesprochen. Karina, Johannes und die Kinder standen nur da und schauten sie an. Der Vermieter brachte noch immer kein Wort heraus. Wie gebannt starrte er das engelhafte Wesen an, bis er plötzlich zusammenzuckte und mit gesenktem Kopf das Haus verließ. Er murmelte noch etwas in seinen Bart, das man als Frohe Weihnachten hätte deuten können, aber sicher war sich niemand.
Anna schaute Mara und Lara an, dann strich sie ihnen übers Haar und sagte zu Karina und Johannes gewandt: „Ihr wart gestern die Einzigen, die mir ein Quartier gaben. Überall wo ich anklopfte, wurde ich abgewiesen. Das werde ich euch niemals vergessen. Vergelt es Gott. Nun wünsche ich euch ein frohes Weihnachtsfest.“ Anna fuhr sich durchs Haar und hielt plötzlich ein paar Seidenfäden in der Hand. Sie reichte diese Karina.
„Für jedes dieser Haare habt ihr einen Wunsch frei, doch gebt Acht, dass ihr in eurer Freude darüber nicht übermütig werdet und den Blick für das Wesentliche verliert. Das müsst ihr mir versprechen.“
Alle vier brachten keinen einzigen Ton heraus und nickten nur. Anna ging zur Tür und öffnete sie. Draußen brach gerade die Dämmerung herein.
„Lebt wohl!“, rief sie noch einmal zurück, dann hatte die aufkommende Dunkelheit sie verschluckt.
Karinas Knie zitterten mit einem Male und sie musste sich setzen. Sie blickte zu ihrer Hand ‚Engelshaar’, dachte sie beim Anblick der seidenen Fäden und für ein paar Minuten herrschte Schweigen.
„Mami, Mami!“, hörte sie wenig später die Kinder rufen. „Überall liegen solche Haare und jetzt, hörst du es? Irgendwo läutet ein Glöckchen.“ Mara und Lara lauschten und da hörten es auch die Eltern: Das feine Klingen eines Glöckchens.
„Was ist das?“, wollte Mara wissen.
Karina lächelte.
„Anna ist wirklich ein Engel. Wisst ihr, Kinder, immer dann, wenn ein Glöckchen klingelt, bekommt ein Engel seine Flügel.“
„Siehste“, sagte Mara, „Ich habe es doch gleich gewusst, dass Anna ein Engel ist. Aber warum hatte sie keine Flügel, als sie hier war?“
Karina lächelte immer noch: „Sie hat sie sich erst verdienen müssen. Anna hat uns aus Dankbarkeit beschenkt, weil wir freundlich zu ihr waren. Und dafür wurde sie mit Flügeln belohnt.“
Es war wohl das schönste Weihnachtsfest seit Jahren, das in dem schäbigen Häuschen am Rande des Dorfes gefeiert wurde.
Und es sollte nicht das Letzte gewesen sein.
Geschenktipp
Zwei Bücher hat unser Arbeitskreis gemeinsam verfasst. diese sollten unter keinem Weihnachtsbaum fehlen.
- Abenteuerliche Anekdoten blind erlebt ist der Titel unserer neuen Anthologie, die im Oktober 2023 im Edition Paashaas Verlag als Taschenbuch und iBook auf dem Buchmarkt erschienen ist.
- „Farbenfrohe Dunkelheit“
ist der Titel unserer mittlerweile zwei mal preisgekrönten ersten BLAutor-Anthologie, die 2022 im Edition Paashaas Verlag als Taschenbuch und iBook erschienen ist und als Hörbuch produziert wurde und bei den Hörbüchereien für blinde Menschen ausgeliehen werden kann.
Auch auf diesem Weg bietet BLAutor seinen Mitgliedern die Möglichkeit, ein eigenes Werk auf dem Buchmarkt zu präsentieren.
Mit dem Kauf dieser beiden Anekdoten unterstützen sie die Arbeit unseres Arbeitskreises.
Und nun kommt noch ein Hinweis auf einen Adventskalender der besonderen Art:
Der Blindnerd-Adventskalender
Unser blindes Mitglied Gerhard ist blinder Hobbyastronom und das einzige blinde Mitglied der Deutschen Astronomischen Gesellschaft. Seit sieben Jahren führt er den Blog Blindnerd.de.
In diesem Jahr widmet sich sein Adventskalender Frauen aus wissenschaft und Astronomie, denn Frauen sind in diesen Arbeitsfeldern bis heute unterrepräsentiert.
Der Blautor-Adventskalender und der Blindnerd-Adventskalender sind überkreuz verlinkt, so dass man von jedem aus zu den jeweiligen Türchen des anderen springen kann.
Mit
diesem Link gelangen Sie und ihr auf diesen etwas außergewöhnlichen Weihnachtskalender.