Einundzwanzigster Dezember

Türchen 21 des BLAutor-Adventskalenders 2024

Der Bettler

von Brigitte Kemptner
Einen Tag vor Heiligabend komme ich endlich zu meinem geplanten Stadtbummel. Außerdem brauche ich dringend noch zwei Geschenke und bei dieser Gelegenheit kann ich gleich noch meine neue Brille abholen.
Mein Mann hat gerade Urlaub und will sich um unsere beiden Kinder kümmern. „Mach dir einen schönen Tag. Bist schließlich das ganze Jahr über für uns da“, meint er und küsst mich liebevoll.

So gehe ich guter Dinge durch die Stadt und lasse die ganze weihnachtliche Atmosphäre auf mich wirken. Reichlich geschmückte Tannenbäume säumen die Fußgängerzone. Die Schaufenster der Geschäfte sind bunt und üppig dekoriert. Sie locken die Passanten zum Kaufen an. Wo immer ich hinschaue, alles erstrahlt im Glanz des bevorstehenden Festes. Aus einigen Läden dringt Weihnachtsmusik an mein Ohr und der Duft aromatischer Gewürze umnebelt meine Sinne. Es ist jedes Jahr das Gleiche, trotzdem stimmt mich diese Zeit stets wieder aufs Neue melancholisch.

Schon als Kind habe ich diese Zeit der Besinnung geliebt, und bedauere es von Jahr zu Jahr mehr, dass Weihnachten längst zu einem Konsumrausch geworden ist. Je näher der Heilige Abend rückt, umso unruhiger, nervöser und gestresster werden die Menschen. Dass viele von ihnen deshalb kaum in der Lage sind, dem Zauber der Weihnachtszeit zu verfallen oder ihn einfach nur zu genießen, ist mir klar. Mich stören Hektik und Gedränge an diesem Tag nicht. Ich bin guter Laune und der Blick zum grauen Himmel ist vielversprechend. Schnee liegt in der Luft.

Mit ausdrucksloser Miene hasten etliche Leute an mir vorüber. Ich habe das Gefühl, als würden sie überhaupt nichts von ihrer Umgebung wahrnehmen. Vor einem Spielwarenladen schimpft eine – sicherlich gestresste – Mutter ziemlich laut mit ihrem Kleinkind. Sie zerrt es unsanft an der Hand mit sich fort. Neben dem Eingang eines Kaufhauses stehen Passanten vor einem großen Verkaufsstand dicht zusammengedrängt und durchwühlten wie besessen die Waren, die dort preisreduziert angeboten werden. Als ich vorübergehe, höre ich, wie sich gerade zwei Frauen um einen Artikel streiten.

In einer kleinen Parfümerie kaufe ich ein Au de Toilette für meinen Vater und setze mich anschließend in ein kleines, schummriges, nur von Kerzenlicht erhelltes Café. Aus einem Lautsprecher klingt gedämpft „Süßer die Glocken nie klingen …“, als die Kellnerin mir meinen bestellten Cappuccino bringt. Sie legt mir eine kleine Tüte Gebäck neben meine Tasse und sagt freundlich:
„Ein kleines Geschenk des Hauses. Das bekommt heute jeder Gast“.
Ich bedanke mich und esse die ganze Tüte mit großem Appetit leer.

Später bummel ich weiter durch die Einkaufszone, dabei schaue ich mir die dekorativen Auslagen der Geschäfte an. Ich brauche noch ein Geschenk für Tante Hilde. Sie hat recht kurzfristig für den ersten Feiertag ihren Besuch angekündigt. Wir sind darüber sehr erstaunt gewesen, denn die gute Tante hat uns Weihnachten noch niemals beehrt. Nun muss ich mir überlegen, was man ihr schenken könnte.
Während ich vor einer Fotogalerie stehe, wird meine Aufmerksamkeit auf laute Stimmen gelenkt.

„Diese Penner sind ein Schandfleck für die ganze Stadt“, sagt die eine Stimme.
„Lassen Sie den Mann in Frieden, der tut doch keinem was“, tönt eine Zweite. Dann wieder die Erste: „Die Kerle sollen arbeiten gehen, dann brauchen sie nicht zu betteln.“
Ich gehe unbemerkt näher. Mehrere Leute stehen mittlerweile da und hören dem Dialog der beiden Männer zu. Auf dem kalten Boden, an eine Laterne gelehnt, sitzt ein bärtiger Mann, dessen Alter schlecht zu schätzen ist. Der graue Mantel, den er trägt, ist zerlumpt und schmutzig. Seine Augen schauen starr geradeaus.
Ob er blind ist, weil sein Blick so leer wirkt, denke ich und habe großes Mitleid mit dem armen Kerl, vor dem ein Topf mit ein paar Münzen steht.
Die Stimmen der beiden diskutierenden Männer nehme ich kaum mehr wahr, weil sich meine Gedanken mit dem armen Kerl beschäftigen. Er tut mir leid und ich frage mich, wo er wohl morgen ist, wenn überall hinter unzähligen Fenstern das Fest der Liebe gefeiert wird. Hat er überhaupt einen warmen Platz zum schlafen? Oder gar eine warme Mahlzeit?

Ein Räuspern ruft mich in die Gegenwart zurück. Ich habe gar nicht bemerkt, dass die anderen Passanten gegangen sind. Allein stehe ich jetzt vor dem Bettler, der die wenigen Münzen aus dem Topf fischt und sie schnell in seiner Manteltasche verschwinden lässt. Verlegen hole ich meinen Geldbeutel hervor, lege ihm einen 5-euroschein in den leeren Topf und sage: „Frohe Weihnachten“. Dann wende ich mich ab und gehe, doch sein „Danke“ habe ich noch vernommen.

Nachdem ich endlich das Passende für Hilde gefunden und an einem kleinen Stand Popcorn für die Kinder gekauft habe, will ich noch meine Brille abholen. Der Bettler kommt mir wieder in den Sinn, der sicher noch in der Kälte auf dem harten Boden sitzt.

Auf dem Weg zum Optiker komme ich an einer Würstchenbude vorbei und bestelle mir eine Bratwurst mit reichlich Senf. Doch als ich bezahlen will, ist meine Geldbörse fort. Wie eine Verrückte durchsuche ich meine Tasche, nichts. Die Börse ist weg und ich den Tränen nahe, während der Würstchenverkäufer mit meiner Wurst in der Hand auf sein Geld wartet. Ich bekomme die Panik. Wo habe ich das Portemonnaie verloren? Ich laufe den Weg zurück zum Popcornstand, denn dort hatte ich ihn noch. Ich frage den Verkäufer, ob eine Geldbörse gefunden worden ist, doch er verneint. Trotzdem schaue ich mich rund um den Stand um, aber ohne Erfolg.

Meine zuvor noch so gute Laune ist wie weggeblasen. Ich muss mich wohl oder übel mit dem Verlust meines Geldbeutels abfinden. Ade vierhundert Euro, ade neue Brille. Und mein Ausweis steckt auch in der Börse. Zum Glück habe ich wenigstens meine Scheckkarten zu Hause gelassen.
Es ist zwecklos, sich mit Selbstvorwürfen zu quälen, davon bekomme ich mein Geld auch nicht wieder. Schweren Herzens mache ich mich auf den Heimweg. Wie erwartet, hat es angefangen zu schneien, aber darüber kann ich mich plötzlich auch nicht mehr freuen.

Mein Mann ist von dem Missgeschick auch nicht sehr erfreut, sieht die Sache aber wesentlich gelassener als ich. Er ist ein Schatz und macht mir keine Vorwürfe, sondern versucht mich zu trösten.
So endet dieser Tag, der doch so schön begonnen hatte.

Heiligabend. Ich trauere immer noch dem verlorenen Geld nach. Zum Glück bin ich den ganzen Vormittag ziemlich beschäftigt und auch die Kinder sorgen für Ablenkung.
Am Nachmittag schicke ich meinen Mann mit den Mädchen spazieren, damit ich in aller Ruhe den Baum schmücken und das Wohnzimmer festlich für die Bescherung herrichten kann. Der Kartoffelsalat ist fertig und die Würstchen muss ich später nur heiß machen.
Da läutet es an der Tür. Wer mochte das sein? Ich erwarte niemanden und die Nachbarn sind schon am Vormittag kurz vorbeigekommen, um Frohe Weihnachten zu wünschen.

Ich öffne und vor mir steht ein Mann mit grauem, schnuddeligem Mantel. Gerade will ich „Ich kaufe nichts an der Tür“ sagen, da erkenne ich den Bettler aus der Einkaufszone.
„Was wollen Sie?“, frage ich freundlich, obwohl ich über die Störung nicht besonders erfreut bin.
„Ich will nicht lange stören“, antwortet er und befördert aus seiner Manteltasche meine Geldbörse zutage. Mein Herzschlag setzt für einen Moment aus.
„Ich habe sie in der Nähe des Popcornstands gefunden“, sagt er, während ich mein Eigentum mit leicht zittriger Hand entgegen nehme.
„Ihre Adresse habe ich auf dem Ausweis gelesen, der drinnen steckt“, spricht er weiter, „Sie sind doch die Frau, die mir den Fünfeuroschein geschenkt hat.“
„Ja, stimmt, ich erkenne Sie wieder“, entgegne ich.
Ich öffne die Börse, um nachzuschauen, ob alle Scheine noch vorhanden sind, da höre ich ihn sagen: „Ich habe nichts von dem Geld genommen.“
Plötzlich schäme ich mich meines Misstrauens. Ich weiß nicht recht, wie ich reagieren soll.
Da wendet sich der Mann zum Gehen. „Frohe Weihnachten“, wünscht er noch.
„Halt, warten Sie!“, rufe ich. „Ich habe mich ja noch gar nicht bedankt. Außerdem bekommen Sie noch einen Finderlohn.“
Ich hole einen Fünfziger aus der Börse und gebe ihn dem Bettler. Doch dann kommt mir spontan die Idee: „Ich möchte Sie gerne einladen, den Heiligen Abend mit uns zu feiern.“ Das jedoch lehnt er so energisch ab, dass ich ihn ziehen ließ, aber nicht, bevor ich ihm unsere Würstchen und ein paar Brötchen mit auf den Weg gegeben habe.

Als ich meinem Mann später freudestrahlend von dem Besuch des Bettlers und der wiedergefundenen Geldbörse erzähle, ist auch er mehr als erleichtert.
An diesem Heiligen Abend haben wir nur den Kartoffelsalat gegessen.
Die Erkenntnis, dass es auch heute noch ehrliche Menschen gibt, und dass es so einfach ist, sie zu beschenken, hat uns Weihnachten wieder ein Stück näher gebracht.
Da ist uns der Verzicht auf unsere Würstchen wahrlich nicht schwer gefallen.

Der Blindnerd-Adventskalender

Unser blindes Mitglied Gerhard ist blinder Hobbyastronom und das einzige blinde Mitglied der Deutschen Astronomischen Gesellschaft. Seit sieben Jahren führt er den Blog Blindnerd.de. In diesem Jahr widmet sich sein Adventskalender ganz den Wundern des Kosmos.
Der Blautor-Adventskalender und der Blindnerd-Adventskalender sind überkreuz verlinkt, so dass man von jedem aus zu den jeweiligen Türchen des anderen springen kann.
Mit
diesem Link gelangen Sie und ihr auf diesen etwas außergewöhnlichen Weihnachtskalender.

Geschenkideen von BLAutor

Drei Anthologien hat unser Arbeitskreis bis jetzt gemeinsam verfasst, und an zwei weiteren haben mehrere unserer Mitglieder mitgewirkt. diese sollten in keinem Bücherregal fehlen.

  1. Blind Verliebt
    ist die neueste im September 2024 erschienene Anthologie des Schreibzirkels BLAutor.
    31 AutorInnen mit Sehbeeinträchtigung beleuchten das Thema auf ganz unterschiedliche Weise. Lassen Sie sich in eine Welt der besonderen Art entführen.
  2. Abenteuerliche Anekdoten blind erlebt
    ist der Titel unserer zweiten Anthologie, die im Oktober 2023 im Edition Paashaas Verlag als Taschenbuch und iBook auf dem Buchmarkt erschienen ist.
    Dank einer Buch-Patenschaft, die eines unserer Mitglieder übernommen hat, ist auch diese Anthologie mittlerweile aufgelesen worden und somit in den Hörbüchereien für blinde Menschen ausleihbar.

  3. Farbenfrohe Dunkelheit
    ist der Titel unserer mittlerweile zwei mal preisgekrönten ersten BLAutor-Anthologie, die 2022 im Edition Paashaas Verlag als Taschenbuch und iBook erschienen ist und als Hörbuch produziert wurde und bei den Hörbüchereien für blinde Menschen ausgeliehen werden kann.
  4. Anthologie Weihnachtszauber, 39 einfach schöne Weihnachtsgeschichten
    Es muss ja nicht gleich ein komplett eigenes Buch sein. In einer Anthologie finden sich stets mehrere Autor:innen mit ihren Geschichten zu einem Thema zusammen, um dann gemeinsam ein Buch zu füllen.
    Der Pashaas-Verlag rief zur Teilnahme an dieser Weihnachts-Anthologie auf. Fünf unserer Mitglieder schafften es, ihre Geschichten dort zu veröffentlichen.
  5. Weihnachtsmodus an, mit Autor:innen des Arbeitskreises und anderen
    Und hier ist die fünfte Anthologie, die der Pashaas-Verlag mit 20 Autor:innen, fünf aus unserem Arbeitskreis, herausgegeben hat.
    Es ist eine Weihnachtsanthologie der besonderen Art.

Nähere Informationen über die jeweils mitwirkenden Author:innen erfahren Sie unter
Vitae und Werke.


21.12.2023, HEILIGABEND

von Mari-Wall
Der Heilige Abend beginnt nun,
viele denken, was wird das für ein Ruhm?
Nein, ihr Menschenkinder,
Frieden, lachen, singen,
noch viel mehr,
das soll euch begleiten zum heiligen Fest.

Gib den Menschen die Hand,
die nicht sind so stark,
wie du selbst.
Reiche Ihnen ein Glas Tee,
etwas Gebäck für das Herz,
somit vergeht rasch das weh.
Teile den Gedanken,
der Stille Nacht,
so hast du wieder ein großes Werk in der Liebe vollbracht.

In Liebe saßen wir zusammen,
mit gutem Essen und lachendem Herzen,
sowie roten Wangen.
Ganz unbefangen,
saßen wir bei einander.
Erzählten von vergangenen Festen,
erhitzten dabei die Herzen,
es brannten wunderschöne Kerzen.

Leise Weihnachtslieder, summten im Ohr,
dazu den Glockenton,
beim Geschenke auspacken,
dieses leuchten der Kinderaugen,
war das Schönste Geschenk für die Herzen.

Ich danke Gott für diese Stunden sehr.
Es war wunderbar,
solch einer Verwöhnung sich zu widmen.
Beschenkt wurden alle mit bedacht,
vor allem so,
dass das Herz in Freude lacht.
Gedanken der Menschen,
welche in der Gnade,
zum heiligen Feste
mit Gaben ebenso bedacht.

Gott, wir danken dir,
dass in unserer kleinen Familie,
waren alle zusammen
und niemand verbrachte die Zeit allein.

Ein Licht der Liebe zünde an,
für die Menschen,
welche haben Niemanden.

In der Stille,
genieße ich die Besinnlichkeit.
Mein Paradies strahlt,
wie immer in der Sonnenzeit.

Gleich werde ich das Hirschfilet genießen,
mit verschiedenen Gemüsen,
volles Korn vom Buchweizen,
dann als Genuss zum Nachtisch als Abschluss,
Glühweinschaumcrem, von Zauberhand gerührt,
zum verwöhnen meines Gaumen.
Auch als Erholungsfeld,
für meinen Magentraum.

Dabei werde ich Dankbar an die Menschen denken,
welche stets mein Herz so freudig lenkten.
Die in Liebe darin sitzen,
auch ganz Leise flüsternd schwitzen.
Da das Herz so groß und weit,
haben viele darin Platz,
wer dort einmal sitzt,
auch in meinem Lebensbuch drin steht.

Geschenktipp

Zwei Bücher hat unser Arbeitskreis gemeinsam verfasst. diese sollten unter keinem Weihnachtsbaum fehlen.

  1. Abenteuerliche Anekdoten blind erlebt ist der Titel unserer neuen Anthologie, die im Oktober 2023 im Edition Paashaas Verlag als Taschenbuch und iBook auf dem Buchmarkt erschienen ist.
  2. Farbenfrohe Dunkelheit
    ist der Titel unserer mittlerweile zwei mal preisgekrönten ersten BLAutor-Anthologie, die 2022 im Edition Paashaas Verlag als Taschenbuch und iBook erschienen ist und als Hörbuch produziert wurde und bei den Hörbüchereien für blinde Menschen ausgeliehen werden kann.

Auch auf diesem Weg bietet BLAutor seinen Mitgliedern die Möglichkeit, ein eigenes Werk auf dem Buchmarkt zu präsentieren.
Mit dem Kauf dieser beiden Anekdoten unterstützen sie die Arbeit unseres Arbeitskreises.
Und nun kommt noch ein Hinweis auf einen Adventskalender der besonderen Art:

Der Blindnerd-Adventskalender

Unser blindes Mitglied Gerhard ist blinder Hobbyastronom und das einzige blinde Mitglied der Deutschen Astronomischen Gesellschaft. Seit sieben Jahren führt er den Blog Blindnerd.de. In diesem Jahr widmet sich sein Adventskalender Frauen aus wissenschaft und Astronomie, denn Frauen sind in diesen Arbeitsfeldern bis heute unterrepräsentiert.
Der Blautor-Adventskalender und der Blindnerd-Adventskalender sind überkreuz verlinkt, so dass man von jedem aus zu den jeweiligen Türchen des anderen springen kann.
Mit
diesem Link gelangen Sie und ihr auf diesen etwas außergewöhnlichen Weihnachtskalender.