Der Bär Bruno

Der Bär Bruno

Anneliese Useldinger

Kaum ein anderes Tier hat nach dem Wolf die Fantasie des Menschen so stark angeregt und in seiner Kulturgeschichte eine so große Rolle gespielt wie der Bär. Als Symbol des Bösen, ähnlich wie beim Wolf, wurde er gnadenlos verfolgt und fast ausgerottet. Auch heute noch ist das Verhältnis zwischen dem schwachen Menschen und dem starken Bären von großen Gegensätzen geprägt und reicht vom Bild der reißenden Bestie bis zu Faszination und Verherrlichung, ganz besonders aber bis zum heiß geliebten Kuscheltier. Wer sich jedoch ohne Vorurteile diesem Tier nähert, sich mit seiner Lebensweise und den ökologischen Zusammenhängen auseinandersetzt, erfährt den Bären als sensibles und in seiner Vielschichtigkeit faszinierendes Wesen und unser Mitgeschöpf.

In der italienischen Provinz Trentino, im Val di Tovel lebte eine junge Bärenfamilie, in der es ziemlich turbulent zuging. Mutter Jurka freute sich und sagte: „Guck mal, wie unser erstes Junges springt, rennt und tollt, ein Prachtkerl, dieser Bruno! Er sticht ab von seinem Brüderchen, dem ist er weit überlegen. Der wird einmal ein starker Stammvater und wird unseren Bärenclan bereichern mit Kerlen wie er einer ist.

Ich werde ihm noch zeigen, wie und wo er die besten Leckerbissen ergattern kann, damit er schneller wächst und stark wird. Ja, da wird er Augen machen und seine geschickten Tatzen einsetzen. Und wenn er mal den Honig aus den Bienenstöcken geschmeckt hat, dann ist er der Feinschmeckerei so richtig auf die Spur gekommen und wird das so machen wie ich.“ Vater Joze, der diesem Bärenprolog ungeduldig zugehört hatte, erwiderte aufgeregt: „Aber Jurka, du gehst zu weit! Lass doch das Räubern sein! Futter gibt es genug hier im Wald, das ist sehr gut für uns und die zwei Jungen. Bedenke doch, dass die Menschen, die du schon so oft beklaut hast, vielleicht eines Tages die Wut kriegen und zurückschlagen! Denk mal darüber nach!“ Jurka rollte vergnügt ein paar Mal auf dem Waldboden herum und antwortete: „Papalapapp! Nicht alle Bären sind so dumm wie du. Probier doch auch einmal, einen Bienenstock zu plündern und am Honig zu naschen! Hm, das ist ein Genuss, nichts anderes kommt diesem gleich! Und die Menschen, die lassen uns gewähren. Sie kriegen ja etwas Geld dafür, dass wir sie schädigen, ja, und damit geben sie sich zufrieden.“ Joze fiel ihr ins Wort. „Bis auf einmal, glaub nur ja nicht, dass das immer so weitergeht. Eines Tages sind sie uns wieder böse und bringen uns um mit ihren Schießeisen, so wie sie es früher schon getan haben. Neulich hat mir ein alter Zwerg erzählt, dass es schon mehr als hundert Jahre her ist, als es hier Bären gegeben hat. Und das könnte bald wieder so sein, wenn du und andere und vor allem unsere Jungen weiter so ihre Bienenstöcke, Schafställe und Ziegenpferche ausräubern!“

Jurka leckte sich das Maul und schwärmte: „Ach ja, junge Ziegen schmecken besonders gut, und auch die Kaninchen sind nicht zu verachten. Und dazwischen mal ein Hühnchen zu rupfen, ja, das macht Spaß und tut so gut! Schau mal, wie unser Bruno sein Brüderchen herumwirbelt, er bleibt immer oben – der Kleine soll sich doch wehren, aber der hat nicht die Qualität des Erstgeborenen, vielleicht ein Spätzünder, wird sich noch machen; auch den werde ich mitnehmen zu meinen kleinen nächtlichen Überfällen und ihm die Leckerbissen zeigen.“ Da begehrte Joze auf und antwortete, jetzt noch erregter: „Soll ich dir erzählen, wie es mir mal ergangen ist, als ich auch so einen kleinen nächtlichen Überfall riskieren wollte? Da, wo wir ursprünglich herkommen, die Menschen nennen es Slovenien, da sind die Menschen etwas gewitzter als die hier. Vor ihren Schaf- und Hühnerställen deponieren sie abends, wenn ihr Vieh schon schläft, kleine Kugeln, die einen Höllenlärm machen, wenn man sie nur mit einer Tatze streift, das weckt natürlich alle auf, und wenn sich dann unsereins nicht gleich aus dem Staub macht, dann kommen die Männer mit ihren Schießeisen, und rechts und links neben dir knallt es. Das machst du nicht ein zweites Mal.“ Darauf erwiderte Jurka gelangweilt: „Och, du bist schon alt und hast keinen Mumm mehr. Aber die Menschen hier sind nicht so böse, die sind froh, dass wir wieder da sind und lassen uns gern mal eins ihrer Tiere oder den Honig. Oh, wir müssen auf unsere Jungen aufpassen. Wo sind die beiden?“ Der besorgte Bärenvater eilig: „Ich lauf sie suchen, sie können nicht weit sein. Bruno, Ferdi! Ah, da seid ihr ja! bleibt hier in unserer Nähe. Ihr seid noch zu klein, um durch den ganzen Wald zu rennen.“ Etwas weinerlich meldete sich Ferdi: „Aber wenn Bruno mich weiter so prügelt und zaust, dann gehe ich weg, ganz weit weg. Papa, sag du ihm doch mal, dass er sich lieber an Nachbars Jungen austoben soll, nicht immer an mir, bitte!“ Joze redete besänftigend auf seinen Ältesten ein: „Mach mal Pause, Bruno, lass deinen kleinen Bruder nicht immer so lange unter deinen kräftigen Tatzen schmoren! Such dir unter den Nachbarskindern einen Stärkeren aus zum Toben!“ Darauf Bruno ein bisschen beleidigt: „Ferdi muss das doch lernen, wie sich so ein Bärenkind wehrt und seine Muskeln stärkt!“ Vater Joze sagte darauf liebevoll: „Aber treib es doch nicht so toll!“ Als es dämmerte, nahm Jurka ihren Liebling mit auf ihrem Streifzug runter ins Dorf. Am Waldrand fanden sie drei Bienenstöcke, einen davon schmissen sie um, rissen die leichten Wände ein, und Jurka wusste genau, wo und wie sie an den Honig kommen konnte. Bruno naschte das goldgelbe Zeug zum ersten Mal und fand seine helle Freude daran, ja, das war nicht das letzte Mal, dass er so etwas herrlich Süßes schleckte? Dann wanderten die beiden weiter dem Dorf entgegen. Alles war still, Menschen und Tiere schliefen schon, niemand würde sich ihnen entgegenstellen. Auf einmal bellte ein Hund. Jurka lief wütend auf ihn zu, sofort erschrak und verstummte dieser Wächter und flüchtete in seine Hütte. Er gab keinen Laut mehr von sich aus Angst, die Bärin könnte ihn umbringen. So streunten die beiden Petze weiter und entdeckten einen Ziegenstall, wo gerade vor ein paar Tagen vier Zicklein auf die Welt gekommen waren. Das war das richtige Fressen und ein willkommener Anfangsschmaus für Bruno. Satt und zufrieden trabten Mama Petz und Söhnchen wieder heimwärts zu ihrem Bau im Wald. Da fiel Jurka auf, dass ein Familienmitglied fehlte und herrschte ihren Partner an: „Aber wo ist denn Ferdi, der Kleine, Joze, wo hast du den gelassen?“ Der gab gelassen zurück: „Ich dachte, den hast du auch mitgenommen. Oh weh, hat der wohl doch Ernst gemacht mit seinem Abhauen, wenn Bruno nicht Ruhe gibt?“

Tage vergingen, Ferdi wurde von den dreien gesucht, vergebens, keine Spur von ihm. Traurig gaben sie auf und warteten dennoch auf seine Rückkehr. Während Bruno ziemlich niedergeschlagen durch den Wald tappte, sinnierte er vor sich hin: „Schade, dass ich keinen Bruder mehr habe – ach, käme er doch wieder zurück!“ Ein Rascheln im Gebüsch schreckte ihn auf, er sah seinen Wunsch erfüllt und rief laut: „Ah, da bist du ja wieder, liebes Bruderherz! Wie gut, dass du zurückkommst, es war so langweilig ohne dich. Hab keine Angst, ich rolle dich nicht mehr so hart. Komm schnell mit zu Mama und Papa, die werden sich freuen!“ Jetzt erklärte ihm sein Bruder: „Ja, Bruno, wegen dir bin ich ausgebüxt. Weit weg von hier wollte ich mich niederlassen, halb tot vom Rennen. Aber da haben mich die Menschen gejagt. Schüsse knallten neben mir, es war schlimm. Nur gut, dass wir Bären schneller laufen können als die Hunde! Ja, eine ganze Meute haben sie hinter mir her gehetzt.. Aber mich kriegt doch kein Hund, nur vor den Menschen habe ich Angst, die können uns gefährlich werden. Bruno, bleib hier, geh nie fort von hier, glaub mir, nur hier im Adamello-Brenta-Naturpark sind wir Braunbären am besten aufgehoben. „Darauf antwortete Bruno: „Ja, das glaub ich dir, aber in ungefähr einem Jahr muss ich doch von hier weg, du kannst dann noch ein bisschen länger bleiben.“ Ferdi bestätigte das und sagte: „Aber der Adamello-Park ist groß genug, so dass unsereins ein neues Revier finden kann, meinst du nicht auch, lieber Bruno?“ Dazu meinte Bruno: „Das kann schon sein, aber ich weiß noch nicht, was ich dann unternehmen werde.“

Groß war die Wiedersehensfreude der Bäreneltern, als ihr Jüngster wieder aufgetaucht war. Sie hätschelten ihn und hörten aufmerksam seinen schaurigen Geschichten zu. Nachdem sich Ferdi gründlich ausgeschlafen und satt gefuttert hatte – Jurka brachte ihm ein paar Küken von ihren nächtlichen Eroberungen mit -, tollten Bruno und Ferdi im sommerlichen Wald herum und freuten sich ihres jungen und schönen Lebens. Bruno hatte sein Versprechen vergessen, seinen kleinen Bruder nicht mehr so hart herzunehmen. Immer öfter schrie dieser unter den harten Griffen seines Bruders. Da packte ihn wieder die Verzweiflung, und eines Tages verschwand er zum zweiten Mal. Jurka und Joze waren entsetzt, als sie sein erneutes Verschwinden bemerkten. Bruno wurde von beiden Eltern sanft ausgeschimpft, was sich dieser sehr zu Herzen nahm, aber dazu war es jetzt zu spät. Auch die nächtlichen Streifzüge mit der gefräßigen Mutter konnten ihn nicht darüber hinwegtäuschen, dass er nie wieder mit dem Brüderchen herumtollen konnte.

Ferdi kam nicht wieder zurück. Und da kam es Bruno in den Sinn, auch mal abzuhauen und auf Abenteuertour zu gehen. Schließlich war er doch nicht so ängstlich wie dieser Ferdi, und er würde wohl kaum in solche Gefahren kommen wie er. Außerdem konnte er noch viel schneller rennen als sein kleiner Bruder. So verschwand auch er aus dem italienischen Naturpark. Er wusste nichts von Ländergrenzen, nichts vom EU-LIFE-Projekt zum Schutz von Braunbären in der Brenta und von der Wiederansiedlung von Braunbären im Alpenraum und der Vernetzung der dort noch bestehenden Population. Auch vor den Menschen hatte er keine Angst, denn im Schlepp von Mama Petz war ihm bisher nichts Böses begegnet. So schlich sich Bruno klammheimlich davon, als die Eltern gerade ein Nickerchen machten, -und als er aus ihrer Sichtweite war, rannte er bergauf und bergab ohne Ziel, einfach der Nase nach. Gegen Abend fand er ein Dickicht, wo er sich verbergen konnte, und machte Halt. Hier könnte er endlich ausruhen, eine Mütze Schlaf nehmen und liegen bleiben, bis seine Kräfte wieder zurückkämen. Unverhofft kam eine Störung: sein Name wurde gerufen. Er wachte auf und fragte ärgerlich: „Was ist denn los, wer ruft nach mir?“ Eine heisere Frauenstimme antwortete: „Du hast dich in meine Obhut begeben, ohne es zu ahnen. Ich bin die Hexe Pandra und jetzt für dich verantwortlich. Ich sage dir: du bist zu früh von deiner Mutter weggelaufen, und du gehst einen falschen Weg.“ Bruno begehrte auf und schnaubte: „Was sagst du da von einem falschen Weg? Hier bin ich doch in Sicherheit, und du wirst mir wohl den richtigen Weg zeigen, oder?“ Die Hexe bejahte seine Frage halbwegs und fuhr fort: „Bleibe hier und laufe nicht so weiter wie bisher. Platz ist hier genug für dich und später für deine Familie. Warte, bis eine Bärin auch von weit her kommt und dich glücklich macht.“ Unwillig antwortete Bruno: „Aber ich will zu den Menschen und mich satt futtern an ihren Schafen, Ziegen, Hühnern und ihrem Honig von den Bienen. Meine Mutter hat mir gezeigt, wie das geht, und das gefällt mir!“ Zornig erwiderte ihm Pandra: „Und das wird dein Untergang sein, wenn du das so weiter treibst. Ja, dein Untergang! Ich habe die Vision: Da, wo du hin willst, werden dir die Menschen mit zwei Kugeln in Lunge und Leber dein schönes junges Leben auslöschen, es sind drei Männer, und sie zielen genau. Bruno, hör auf mich, noch ist es Zeit, ich bitte dich, hör auf mich, bleib hier und bescheide dich mit den Früchten des Waldes, die sind auch süß und nahrhaft, nur so bleibst du am Leben.“ Aber Bruno nahm die Warnung der Hexe nicht ernst und spottete: „Och, du siehst Gespenster, das kann doch nicht sein. Die Menschen lieben uns doch, weil wir so schön sind, und wenn ich sie ein bisschen beklaue, das nehmen sie mir doch nicht übel. In Brenta ist nie etwas passiert, höchstens hat mal ein Hund gebellt, aber den hat Mama schnell zum Schnauze-halten bekehrt. Ich glaube dir kein Wort. Du willst mich nur hier behalten, aber mir ist es hier viel zu einsam.“ Pandra gab beleidigt zurück: „Schade, dass du so unvernünftig bist und mir nicht glaubst! Ah, da sehe ich noch ein anderes Bild: Deine Mutter Jurka wird gefangen und bekommt eine kleine Maschine ins Fell eingesetzt. Damit können die Menschen beobachten, wo sie sich rumtreibt. Und wenn sie wieder auf Raubzug trabt, dann vergrämen sie sie mit Knallern und Schüssen, wenn sie das dann immer noch nicht lässt – ja, sie ist auch so unvernünftig wie du -, dann wird sich eines Tages so eine Kugel in ihren schönen Leib verirren.“ Darauf sagte Bruno: „Och, von sowas hat Papa auch mal erzählt, aber das ist schon lange her und war in einem fernen Land. Heute machen die Menschen das nicht mehr.“

Pandra sah, dass ihre Warnungen fehlgeschlagen waren und wurde sehr traurig, und das sagte sie nun zu Bruno: „Ich bin sehr traurig über deinen Leichtsinn, der dich das Leben kosten wird. Noch einmal ermahne ich dich, darüber nachzudenken und darüber zu schlafen. Vielleicht siehst du dann klarer und erkennst, dass ich recht habe.“ Bruno antwortete nun etwas freundlicher: „Ja, du meinst es ja gut mit mir. Jetzt muss ich viel Schlaf nachholen nach meinen langen Wanderungen, und dann sehen wir weiter. Hab Dank für alles und lass mich erst mal ausschlafen.“

Etwas erfreut über diese leichte Sinnesänderung bei Bruno sagte Pandra: „Nun denn, schlaf dich ruhig aus. Ich werde eine Sylphe bitten, dir im Traum meine Warnungen zu bestätigen, und ein Gnom wird in der Nähe bleiben und über deine Ruhe wachen.“ Laut gähnend erwiderte Bruno: „Nochmals Dank, Pandra, dann bis morgen.“

Der helle Vollmond strahlte noch am Nachthimmel, als Bruno erwachte und anhaltend gähnte. Da kam er ins Bewusstsein und sagte vor sich hin: „Oh, hab ich einen Hunger! Der helle Mond ist mir gerade recht. Ich muss mich auf die Suche nach einigen Leckerbissen machen. Lass die Hexe doch von ihren Früchten des Waldes faseln, die kriegt doch nicht so einen Hunger wie ich! Los jetzt, das ist die beste Zeit, und im Mondschein werde ich den richtigen Weg leicht finden. Ah, da unten bellt ein Hund den Mond an, da muss ich hin, denn da gibt es zartes Tierfleisch, ab und weg!“

Aber noch wachen Hexe Pandra war es nicht entgangen, dass Bruno wegrannte. So klagte sie: „Oh, du dummer junger Bär, du rennst in dein Verderben. Schade um dich, ach, wie schade, dass du meine Warnung in den Wind geschlagen hast!“

Bruno konnte es nicht lassen, in Ställe und Pferche einzubrechen, Bienenstöcke zu ruinieren und auch Menschen zu erschrecken. Seine fressgierige Mutter hatte ihn früh gelehrt, wie er leicht und ungestört an Feinschmeckerkost für Bären herankommen konnte und dass die Menschen das nicht verübeln würden. Doch das war ein kapitaler Irrtum. Hat ein Bär, Wolf oder Hund einmal damit angefangen, sich als Raubtier durchzuschlagen, so lässt er das in der Regel nicht mehr. Das Zusammenleben der Menschen mit solchen Raubtieren verursacht Störungen und Verärgerungen, die in einigen europäischen Ländern bereits zu Schutzmaßnahmen ohne Tötung der Eindringlinge geführt haben. Pandra hatte recht sowohl mit ihrer ersten wie mit ihrer zweiten Vision. Auch Jurka musste sich solchen Managementplänen beugen. Bruno ging auf seinen Streifzügen durch Österreich und Bayern einem harten, wenn auch vermeidbaren Schicksal entgegen. Vom 20. Mai bis 26. Juni 2006 riss er 31 Schafe, mehrere Ziegen, Kaninchen und Hühner, außerdem plünderte er drei Bienenstöcke. Das war zuviel. Oft töten solche Räuber auch dann noch, wenn sie schon satt sind, und dabei bleibt das Beutetier, kaum angefressen, liegen. So war die Wanderspur Brunos leicht, weil blutig zu erkennen. Während 48 Tagen und Nächten trieb er sein Unwesen in österreichischen und bayerischen Alpenregionen und verbreitete Angst und Schrecken. Schon hatten die Menschen eine Abkürzung für ihn parat: JJ1 – soll heißen: 1. Wurf von Joze und Jurka.

Es war nur allzu verständlich, dass die Menschen aufbegehrten in den Bergen Bayerns ob all der Frevel durch den ungestümen Bruno. Ein Gutsbesitzer, der etliche seiner Tiere verloren hatte durch das allnächtliche Räubern dieses fress- und reiss-süchtigen jungen Bären, suchte verzweifelt einen Förster auf und sprach: „Jetzt reicht‘ s! Der Bär muss weg. 14 Schafe und 5 Ziegen hat er mir gerissen, und das waren wohl noch nicht die letzten. Da muss was geschehen!“ Der Förster erwiderte beschwichtigend: „Ja, nun warten Sie es mal ab. Wir haben finnische Bärenfänger mit speziell dafür trainierten Hunden einfliegen lassen, die sind nicht billig! Und die sind ihm auf der Spur. Aber der Kerl ist nun mal zu schnell, da kommt kein Hund mit. Ich hoffe jedoch, dass es dieser Hundestaffel bald gelingen wird, diesen Bruno einzufangen, zu betäuben, und was weiter, das müssen wir dann sehen.“ Der Gutsbesitzer geriet mehr und mehr in Zorn und ließ diesem freien Lauf. „Dummes Geschwätz! Was werden wir sehen? Ich bin geschädigt, und jetzt reicht’s mir! Da gibt es nur eins: Abschießen, sonst nichts! Nur mit einer bayerischen Waidmannskugel ist diesem italienischen Räuber beizukommen. Unter uns: Ich geb Ihnen 500 Euro, wenn Sie ihn abknallen. Die Touristik wird es uns danken, denn die Gäste bleiben schon weg oder stornieren, alles nur wegen diesem Bruno!“ Nun packte der Zorn auch den Förster: „Aber so haben Sie doch noch etwas Geduld! Wenn die Finnen mit ihren Hunden das wirklich nicht hinkriegen, dann können wir wieder darüber verhandeln. In den anderen Alpenländern geht man schon neue Wege und lässt Bären und Wölfe leben. Vielleicht kriegen wir ihn ja und können ihn zumindest wegsperren. Im Bayerischen Wald ist genug Platz dafür!“ Der Gutsherr lenkte ein und sagte: „Nun denn, warten wir noch drei Tage, aber wenn er dann immer noch frei herumläuft, in Ställe und Bienenstöcke einbricht, dann ist Schluss damit!“

Drei Tage verstrichen, ohne dass Bruno gefangen wurde. Die Finnen machten weiter, konnten diesem kräftigen und listigen Räuber jedoch nichts anhaben. Ängstlich fragten sich die Bergbewohner, ob und wann es diesem Bruno womöglich noch einfallen würde, auch mal Menschenfleisch zu probieren? Dann trafen sich die beiden Männer wieder, und diesmal stimmte der Waidmann zu, den Bären zu erschießen. Die Aussicht auf ein schönes Stück Geld hatte Wirkung. Es beruhigte auch den Forstmann, dass eine vom WWF finanzierte 4000 Dollar teure Bärenfalle keinen Erfolg gebracht hatte. Ebenfalls waren die vier finnischen Bärenjäger, unterstützt von schwedischen und norwegischen Elchhunden, der Schläue und Lauffreudigkeit Brunos nicht gewachsen. Nicht genug damit: Neben einem fünften finnischen Bärenfänger kam noch ein Betäubungsspezialist aus Wien hinzu. Aber immer wieder büxte Bruno aus, so dass die Betäubungspfeile mit einem Spezialgewehr aus einer Distanz von nur 80 m nicht zum Einsatz kommen konnten.

In einer Ruhe- und Verdauungspause führte Bruno Selbstgespräche wie dieses: „Ha, ha, wie die hinter mir herhetzen, sogar mit ganz schnellen Hunden. Was für ein Spaß, dass sie mit mir doch nicht mithalten können, ja, ich bin immer der Schnellste!

Hinter diesem Hügel stand so ein komisches Ding, weiß nicht, was es ist. Aber Bruno ist helle, geht lieber um das Ding herum, wird nichts Gutes sein. Die Menschen hier sind anders als da unten bei Mama und Papa. Ich muss hier vorsichtiger sein und ganz gut aufpassen! Aber die kriegen mich auf keinen Fall. Oh, da schleicht einer am Wald vor der Felswand herum und guckt so genau hierher! Was will der von mir? Auuu!“

Kurz vor der Morgendämmerung knallten zwei Schüsse. Der junge Bär brach zusammen und starb. Erfreut rief der Förster aus: „Das haben wir, erledigt! Die 500 Euro kann ich gut gebrauchen. Aber wird der Gutsherr den Mund halten und mich nicht verraten? Das gibt bestimmt einen Aufruhr unter den Tierschützern und Naturfreunden, national und international. Oh weh, ich muss mich verstecken, bis wieder Gras über die Sache gewachsen ist. So, jetzt werde ich den reichen Herrn wecken und es ihm verkünden. Vielleicht lauert er ja schon auf das Klingeln. Und jetzt nach Hause, das Weitere geht mich nichts mehr an, das sollen andere besorgen!“ Nachdem die Tötung Brunos bekannt wurde, schlugen die Wellen der Entrüstung hoch. Tierschützer, NABU und andere Organisationen und viele Bärenfans im In- und Ausland beschuldigten die Politiker; Rücktrittsforderungen wurden laut. Und dann kamen auch die Italiener mit ihren Forderungen. Wem gehörte denn eigentlich der tote Bär? Auch um sein Fell wurde gestritten. Aber das Land Bayern verteidigte sein Recht auf Bruno und wollte ihn ausgestopft neben dem zuletzt vor 170 Jahren erlegten Bären platzieren, und zwar im Naturkundemuseum „Mensch und Natur“ im Schloss Nymphenburg in München. Clevere Profiteure traten auf den Plan und lockten mit T-Shirts, Steiff-Bären, Gummibärchen von Haribo usw. zum Andenkenkauf in memoriam Bruno, der es zu weit getrieben hatte und deshalb sein junges Leben lassen musste. Der deutsche Papst Benedikt XVI. hat den Bären in sein Wappen aufgenommen und damit das Heimatrecht dieses in Bayern erlegten Tieres bestätigt.

Da sich die Bärenpopulation im Adamello-Brenta-Park inzwischen auf ca. 18 Tiere vergrößert hat – nach Umsiedlung einiger Bären aus Slovenien -, steht zu erwarten, dass Bruno nicht der letzte Wander- und vielleicht auch Problembär in Bayern war.

Wird es dann zu einem erneuten Abschuss kommen, oder wird man die Schutzmaßnahmen ergreifen, die bereits in einigen Nachbarländern zur Sicherheit sowohl der Menschen als auch zur Erhaltung des Wildtiers Bär notwendig und bereits erfolgreich erprobt sind?

(c) Anneliese Useldinger / Bonn

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BLAutor – Arbeitskreis blinder und sehbehinderter Autoren – www.blautor.de

Veröffentlicht von Christiane Quenel I. A. Blautor

Mein Name ist Christiane Quenel. Als Autorin bin ich die Paula Grimm. Als Sprecherin des Arbeitskreises blinder und sehbehinderter Autorinnen und Autoren (BLautor) bin ich seit Ende 2021 auch verantwortlich für die Webseite von BLautor.