Der Wahlversprecher und die Volksverstimmung – Oder: – Im Rausch der Politik

Der Wahlversprecher und die Volksverstimmung

Oder:

Im Rausch der Politik

Harald Butterweck

Du musst wählen gehen!”, rief meine Frau. “Ich muss wählen gehen? Und du?” “Auch kochen ist wichtig.” “Auch, aber nicht nur!”
Genüsslich zog ich den Duft des angebratenen Saumagens ein. Meine Frau gab mir ein paar Kohlwitze mit auf den Weg, die sie in 100 Variationen erzählen konnte. “Ehrlichkeit ist eine Zier…, das war und bleibt mein Wahlspruch”, hatte Helmut K. voll Freud gesprochen. Hatte ich doch selbst meiner Frau einmal am Küchenherd erklärt: “Überm Fressen hab‘ ich dich gern”.
Mit diesen Überlegungen betrat ich das Wahllokal. Die hübsche Wahlhelferin Nadja übergab mir die Wahlunterlagen, schnupperte und sagte: “Ein gutes Essen gibt es heute bei Ihnen.” Ich wunderte mich und antwortete: “Saumagen und Deidesheimer Wein, mögen Sie das auch?”
“Strikte Neutralität verbietet mir eine Stellungsnahme zu Ihrer Frage”, erwiderte Nadja. In der Wahlkabine roch ich an meinem Pullover und gab Helmut K. meine Stimme. Gierig verschlang sie die Urne. “Soll ich Ihnen das Saumagenrezept zukommen lassen?” “Später”, flüsterte Nadja.
Schnell verließ ich den Raum und dachte an Saumagen und Deidesheimer Hofstück. Da plötzlich fielen mir die Worte meiner Frau ein: “Wahlversprechen haben kurze Beine, denk‘ dran.” Mir kamen Zweifel, hatte ich mich etwa verstimmt? Warum musste meine Frau auch ausgerechnet heute diese Pfälzer Spezialität zubereiten?”
Derlei Gedanken wurden mir schnell zerstreut als ich den Hausflur betrat und der Duft des Saumagens meine Nasennerven kitzelte. “Hast du richtig gewählt?”, fragte meine Frau. Immer diese Kontrolle, dachte ich und war verstimmt. Meine Frau ahnte etwas und sagte: “Du hast doch nicht etwa…?” “Doch ich habe…” “ Da gab es doch noch andere Namen, z.B. Rudolf S-c-h-, männlich kompetent…” “Woher weißt du das”, schrie ich sie an. “Reg‘ dich nicht auf, ich meine das doch politisch”, erwiderte sie und wendete den Saumagen. “Willst du Helmut K. etwa Inkompetenz unterstellen? Hat er nicht viele Freunde? Billy, Boris – und – und – ?”
“Ich glaub‘ von Politik verstehst du nichts. Hol‘ lieber den Pfälzer aus dem Keller”, befahl meine Frau und ich gehorchte, froh der Diskussion entfliehen zu können. Dann lobte ich den Saumagen über alle Maßen und den Deidesheimer und die Kochkünste meiner lieben Frau.
In den kommenden Tagen und Wochen wurde die Erkenntnis immer deutlicher in mir: Wieder hast du dich verstimmt. Das ganze Volk hat sich verstimmt. Vier Semester hielt die Verstimmung an, dann erinnerten wir uns Helmut K.‘s bedeutungsvoller Worte: “Die Menschen in unserem Lande müssen umdenken, umdenken in ihren Köpfen.” Darauf wollte ich in Zukunft hören und – auf meine Frau.
O Weisheit – im Standort Deutschland!

(c) Harald Butterweck / Köln

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Entscheidungen

Entscheidungen

Harald Butterweck – Oktober 2011

Als ich neulich, Anfang Oktober meinen Abendspaziergang machte, begegnete mir unterwegs mein Freund und Kollege Frank. “Gut, daß ich dich treffe”, sagte er. “Ich habe ein großes Problem. Am 1. November soll ich meine Vikarsstelle in Pirmasens antreten, vorher jedoch muß ich heiraten”. “Wieso mußt du”, fragte ich. “Du weißt doch”, antwortete er, “Die Landeskirche wünscht, daß junge Vikare, bevor sie eine Stelle antreten, verheiratet sind, damit die jungen Mädchen der Gemeinde sie nicht von der Arbeit abhalten”.

“Und du hast zur Zeit keine Freundin?”. “Doch”, antwortete er, “ich habe derer drei, ich weiß aber nicht, welche von den Dreien ich heiraten soll. Da ist die Waltraud, die Gisela und die Monika. Du kennst ja alle Drei. Zu welcher würdest du mir raten?” “Alle drei sind sehr nett”, sagte ich, “deshalb kann ich dir die Entscheidung nicht abnehmen”.

“Außerdem muß ich vorher der Kirchenleitung meine Zukünftige vorstellen und um ihre Zustimmung bitten”, fuhr er fort. Frank sah mich eine Weile nachdenklich an. “Das ist genau so, wie wenn ich mich beim Hemdenkauf für eines entscheiden soll”. Da ich Frank wirklich nicht helfen konnte, verabschiedete ich mich und wandte mich meiner Wohnung zu.

Im Dezember desselben Jahres traf ich Frank wieder. “Nun”, fragte ich, “hast du eine Entscheidung getroffen?”. Frank sah mich strahlend an und sagte, “ich habe mich für Monika entschieden. Wir Beide sind glücklich und die Gemeinde hat uns gut aufgenommen”.

Als ich das junge Paar im März des folgenden Jahres in ihrem neuen Heim besuchte, hatte ich den Eindruck, sie sonnten sich immer noch in ihrem Glück. Doch bald gab es ein neues Problem. Franks Schwiegervater war inzwischen verstorben und die Schwiegermutter hatte den Wunsch, zu ihnen ins Pfarrhaus zu ziehen.

Während Monika sofort zustimmte, erbat sich Frank Bedenkzeit. Aus Liebe zu seiner Frau willigte er schließlich ein. Seine Schwiegermutter bezog einer der Zimmer im großen Haus, ging täglich im nahen Wäldchen spazieren und brachte eines Tages ihren neuen Freund samt Schäferhund mit nach Hause.

(c) Harald Butterweck / Köln

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Heimatmuseum

Heimatmuseum

Harald Butterweck

– Juden in Königswinter – eine Ausstellung –

lasen wir auf dem Plakat.

Den jüdischen Friedhof hatten wir vor einiger Zeit schon besucht. Nun bot sich also die Gelegenheit, noch mehr über Juden in Königswinter zu erfahren. Inge und Hans, unsere Freunde, wollten sich uns anschließen.

Bald knarrten unter unseren Füßen die Treppenstufen des alten Fachwerkhauses. In Vitrinen der Ausstellungsräume waren silberne Kelche, siebenarmige Leuchter, Urkunden und vieles Andere zu sehen. Hans blieb vor einem Schrank längere Zeit stehen und winkte uns herbei. Leise las er mit gebrochener Stimme: „Geburtsurkunde: Josef N., geb. am 23. Juni 1934 in Köln.“‚ „Mit Josef habe ich 1944 im KZ Köln – Müngersdorf gespielt, nachdem uns die SS von unseren Müttern getrennt hatte“, fuhr er bewegt fort. „Mich nannten alle Hannes und den Josef Jupp.“

„Das bin ich“, sagte eine ältere Männerstimme neben der Vitrine. Schweigend verließen wir die beiden Männer, die sich nach über sechzig Jahren wiedersahen.

(c) Harald Butterweck / Köln

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Meine Insel

Meine Insel

Harald Butterweck – November 2004

Geworfen in des Meeres Tosen,
bekämpfte ich Wellen mit aller Kraft.
Kein Leben gebettet auf Rosen.
Doch dann begann die Leidenschaft.
Bin zufällig gestrandet?
Bin ich zielbewusst gelandet?
Gegönnt ist es nur Wenigen –
eine Insel,
die Insel eines Seligen.

(c) Harald Butterweck / Köln

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Meine Insel

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Mit Blindheit geschlagen

Mit Blindheit geschlagen

Harald Butterweck

Ich habe viel gearbeitet und war blind.
Ich habe viel Geld verdient und war blind.
Ich bin viel gereist und war blind.
Das Wesentliche sahen meine Augen nicht.
Danke, kleiner Prinz!

(c) Harald Butterweck / Köln

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Mit Blindheit geschlagen

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Texte zum Thema Krise

Texte zum Thema „Krise“

Harald Butterweck

– geschrieben nach seinem Verkehrsunfall –

Dunkelhaft

Der Finsternis verhaftet
ersehnte ich vergeblich Licht.
Wer hat das Dunkel je verkraftet?
Ein Held? Der bin ich nicht!

Todeszelle

Da sitz‘ ich einsam nun
und warte ängstlich auf den Tod.
Geist und Glieder wollen ruhn.
Haben dann ein Ende Angst und Not?

Lebensfurcht – Todesfreude

Dein Leben gehört mir,
dachte der Soldat
und erschoss den Feind.
Dein Leben gehört mir,
dachte die Frau
und trieb den Fötus ab.
Mein Leben gehört mir,
dachte ich
und erschrak!

(c) Harald Butterweck / Köln

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Texte zum Thema „Krise“

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Horror im Advent

Horror im Advent

Joachim Schnell – Dezember 2000

Als Albert den Fahrstuhl verlässt und den Frühstücksraum betritt, sieht er blass aus und stützt sich schwer auf seinen Stock. Von allen Seiten wird ihm ein freundliches „Guten Morgen“ zugerufen. Doch der Mann ist völlig abwesend und reagiert auf keinen Gruß. Er setzt sich ächzend auf seinen Stammplatz an der Stirnseite des langen Tisches.

Die anderen Elf, mit denen er jede Mahlzeit gemeinsam einnimmt, sind bereits beim Frühstück und verstummen, als sie den sonst so fröhlichen Mann anblicken, der völlig verstört und mit Schweißperlen auf der Stirn auf seinem Platz hockt.

„Wat is’n los, Albert?“, ruft ihm Otto, sein langjähriger Freund vom anderen Ende der Tafel zu: „Du siehst ja aus, als hätts de nen Jeist jesehn“.

Corinna, die kleine, zierliche Frau, die neben Albert sitzt, legt besorgt ihre Hand auf die seine: „Geht es dir nicht gut? Sollen wir einen Arzt kommen lassen?“

Albert erwacht aus seiner Lethargie und blickt alle am Tisch traurig an: „Kommt denn keiner von euch selbst darauf?“

Als ihn alle nur stumm und fragend ansehen, fährt er fort: „Meine erste Beschäftigung an jedem Morgen ist es, das Kalenderblatt des vorigen Tages abzureißen…“

„Wahnsinn“, lacht Otto auf: „Und dabei ist dir…“

„Heute ist Freitag, der 1. Dezember“, fährt Albert unbeirrt fort: „Übermorgen ist der erste Advent.“

Schlagartig wird es im ganzen Raum still, denn Albert hat die letzten Worte mit seiner gewohnt kräftigen Stimme ausgesprochen. Am Nachbartisch scheppert es heftig. Jemandem ist vor Schreck die Kaffeetasse entfallen.

„Ach du Schei…“, entfährt es Otto, der nun gleichfalls blass aussieht.

Die Küchenfrau, die in diesem Moment mit zwei Thermoskannen frisch gebrühten Kaffees eintritt, blickt irritiert auf die Schar schweigender, alter Leute. Bevor sie allerdings fragen kann, was denn passiert sei, bricht die Hölle los.

Einige springen auf. Durcheinander redend wirbeln sie durch den Raum. Andere vergraben ihren Kopf in den Händen, und es sieht aus, als ob sie zu schluchzen beginnen.

Rufe wie: „Um Gottes Willen, ist es schon wieder so weit..?“, oder: „In diesem Jahr lassen wir uns das nicht mehr gefallen“, sind zu hören.

Eine dicke Frau kreischt: „Nie wieder Rudi Schuricke“, während Otto in tänzelnden Schritten durch den Raum schwebt und vor sich hin trillert:
„Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt
und der Müllberg dort hinterm Weinberg zum Himmel stinkt.“

Entsetzt krampfen sich die Hände der Küchenfee fester um die Kaffeekannen. Sie wendet sich um und stürzt in das Büro des Heimleiters. Als sie die Tür öffnen will, prallt sie mit diesem zusammen.

„Was gibt es denn Frau Müller; was soll dieser Lärm?“

„Ich weiß nicht Herr Direktor, deshalb wollte ich sie ja holen. Irgend etwas regt die alten Leutchen fürchterlich auf.“

Der Heimleiter geht mit großen Schritten auf den Frühstücksraum zu. An der Schwelle bleibt er abrupt stehen und schaut verwirrt auf die Szene. Noch immer wild gestikulierend reden alle durcheinander. Als sie den Direktor an der Tür stehen sehen, verstummen zwar einige, aber eine kleine Gruppe eilt auf ihn zu.

Voran Otto, den Zeigefinger der rechten Hand ausgestreckt auf den Bauch des Direktors gerichtet, der unglücklich einen Schritt zurück weicht. Dahinter die dicke Dame, die noch immer: „Nie wieder Rudi Schuricke“ kräht. Auch Albert, der mit seinen 192 Zentimetern und 120 Kilogramm etwas Bedrohliches hat und jetzt auch noch mit seinem Stock herum fuchtelt, gehört dazu.

Der Chef des Hauses gibt sich einen Ruck: „Aber meine Herrschaften“, ruft er verzweifelt, um eine feste Stimme bemüht: „So beruhigen sie sich doch. Was ist denn eigentlich passiert?“

„Advent steht vor der Tür und dann kommt och noch Weihnachten. Det is passiert!“, stößt Otto erbost hervor.

Der Heimleiter blinzelt irritiert: „Ja natürlich, Advent, und wir haben auch wieder viel vorbereitet. Wir werden es ihnen, wie in jedem Jahr, so richtig gemütlich machen.“

„Nur det nich“, stöhnt Otto, während die Dicke erneut loslegt: „Nie wieder Rudi Schu…“

Otto stopft ihr sein Frühstücksbrötchen in den Mund, das er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte.

„Nu lass doch mal den ollen Schuricke, Adelheid“, knurrt er die Frau erbost an: „Hier jeht et um mehr.“

„Ja aber worum denn nur?“

Jetzt mischt sich Albert ein: „Darum, dass sie uns nicht wieder vorschreiben, wie wir die Advents- und Weihnachtstage zu verbringen haben…“

„…die Blagen von der Jrundschule nebenan uns jeden Sonntag mit ihren Liedchen quälen, uns beim jemütlichen Kaffeetrinken stören, vom Bundesliga Kieken abhalten oder vom Surfen im Internet“, unterbricht Otto ihn.

Der Heimleiter sieht Otto überrascht an: „Sie verstehen etwas vom Internet? Davon weiß ich ja gar nichts.“

„Det jeht sie auch ja nichts an. Sie halten uns Olle doch sowieso alle für bekloppt.“

„Aber ich bitte sie…“

Otto fährt unbeirrt fort: „Wenn die Jören alle die Weihnachtslieder jeschmettert haben, die man schon jar nich mehr hören kann, weil die einem in jedem Kaufhaus, bei jedem kleenen Krauter, so lange um de Ohren jedudelt werden, bis ma vor lauter Rührung seine letzte Mark och noch für Kinkerlitzchen ausjejeben hat, erwarten se dafür dann auch noch ne dolle Belohnung.“

„Aber das ist doch verständlich. Die geben sich doch solche Mühe.“

„Vonwegen Mühe, die wollen doch alle nur unsere Kohle“, mischt sich jetzt Albert wieder ein: „Genau wie unsere lieben Familien, die uns hier ins Heim für Friedhofsgemüse verfrachtet haben. Pünktlich zur Weihnachtszeit fällt denen ein, dass da ja noch welche sind, zu denen man ein wenig nett sein sollte. Schließlich könnte es ja sein, hoffentlich bald, dass es irgend etwas zu erben gibt.“

Der dicken Adelheid ist es inzwischen gelungen, das Brötchen herunter zu würgen. Sie schnappt nach Luft, um dann wieder ihre schrille Stimme zu erheben: „Und zu allem Überfluss nerven sie uns jedes Jahr mit diesen scheußlichen, gemütlichen Musikabenden.“

„Jenau“, pflichtet Otto bei: „Die Caprifischer-Jeneration is fast ausjestorben. Jetz is Elvis anjesagt und de Beatles-Stones-Jeneration drängt och schon jewaltich nach. Aber det hat sich bis hier noch nich rumjesprochen.“

Allgemeiner Applaus!

Doch der Angesprochene blickt pikiert: „Beatles, Rolling Stones, mit denen bin ich aufgewachsen, und ich bin gerade mal 50 geworden.“

Corinna blickt ihn mitleidig an: „Na und? Die paar Jahre haben sie schnell hinter sich gebracht und dann wechseln sie den Chef- mit dem Fernsehsessel.“

„Ick jedenfalls“, Otto ist nicht zu bremsen: „habe auf meine ollen Tage nich det Computern jelernt, um mir dann anöden zu lassen. Ick jeh lieber im World-Wide-Web zu Sankt-Pauli-Nachrichten.de.“

„Ferkel“, wirft Corinna entrüstet ein: „Aber sich von seinen Söhnen erzählen zu lassen, wie schlecht es ihnen geht, sie mir daher leider nichts zu Weihnachten schenken können, sie sich aber freuen würden, wenn ich ihnen eine Kleinigkeit, so etwa 30.000 Mark, zu ihrem neuen Auto rüber reichen würde.“

„Bei mir ist das nicht anders.“ In Elses Augen, die bisher etwas abseits stand, schimmern Tränen: „Den ersten Weihnachtswunschzettel erhielt ich schon im August: einen Computer, das neueste Modell natürlich. Dabei habe ich meinem Enkel schon im vorigen Jahr einen gekauft. „Aber der ist inzwischen völlig out Oma“, wurde mir erklärt: „Mit dem kann man ja gar nichts mehr machen.““

„Und meine Schwiegertochter erzählt mir neulich so ganz beiläufig, dass sie beabsichtigen, zu bauen. Und wenn ich mich ein wenig an den Kosten beteiligen könnte, würde sicher ein Zimmerchen für mich abfallen.“

„So wie Otto und Else geht es den meisten von uns.“ In Corinnas Augen stehen Tränen: „Kaum jemand von uns ist freiwillig hier. Als wir unseren Haushalt nicht mehr schafften, wurde überlegt, wohin mit den Alten. Unsere Kinder hatten keinen Platz, keine Zeit, kein Geld, um uns aufzunehmen.“

„Ick wollt da sowieso nich hin“, wirft Otto ein: „Und jetz, wo wir hier im Wartesaal zur letzten, jroßen Reise sitzen, fällt man rejelmäßig an den Adventswochen hier ein und macht in Familie.“

Albert geht ganz nah an den Direktor heran, der dem Ausbruch seiner Schützlinge fassungslos zugehört hat. Das, was Albert dann aber heraus bringt, gibt ihm den Rest: „Wir haben uns schon frühzeitig mit dem Problem befasst, und wir sind zu einem Entschluss gekommen.“

„Und wie sieht der aus?“

„Wir wollen keinen Familienbesuch, keine Liedchen trillernden Schulklassen, keine Weihnachtsfeier mit immer den gleichen verstaubten Schallplatten. Wir wollen nur eins, unsere Ruhe.“

„Und selbst entscheiden, was wir zu Weihnachten machen“, pflichtet Adelheid bei.

„Wenn sie uns det nich jarantieren, werden wir die Einjänge zum Haus verbarrikadieren“, trumpft Otto auf.

Tosender Applaus!

„Das wäre ja nahezu eine Revolte.“ Hilfe suchend schaut sich der Direktor in der Runde um. Schweißperlen kleben nun auf seiner Stirn.

„Oder wir alle machen uns über die Feiertage dünne“, wendet Otto ein.

„Sollen wir vielleicht alle nach Honolulu fahren?“, kichert die dicke Adelheid.

Alberts Augen beginnen zu blitzen, und man sieht ihm an, dass er eine seiner grandiosen Ideen hat: „Das ist gar kein schlechter Gedanke. Warum soll man die vermaledeiten Feiertage nicht im warmen Süden verbringen?“

„Wer hat so viel Kohle, wer hat so viel Jeld?“, trillert der alte Josef aus seiner Ecke.

Das Argument zählt, und das wissen alle.

Albert geht nun einige Schritte auf die Anderen zu: „Dieses Jahr werden wir aktiv werden. Die Adventszeit ist bekanntlich die Zeit, wo die Leute bereitwillig ihre Geldbörsen öffnen.“

„Ja, für alle möglichen Kinkerlitzchen, aber doch nicht für uns“, krächzt Josef und schaut missmutig in die Runde.

Der Direktor hat sich inzwischen gesetzt und betrachtet nun das Schauspiel argwöhnisch.

„Wie ist das Otto, spielst du noch immer ein wenig Saxophon?“

„Na jedenfalls besser, als du auf deiner Quetschkommode“, wendet Otto ein.

„Das wäre ja schon eine Grundlage für unsere Band, das „Duo Infernale““, spottet Adelheid und schlürft ihren noch immer heißen Kaffee.

„Na, und so ein paar Tränensäcke füllende Songs haben wir doch auch noch drauf.“

„Dann brauchen wir aber och noch ein paar fesche Mädels, die für uns die Stimmakrobatik übernehmen“, kichert Otto, dem diese Idee zunehmend gefällt.

Ein lautes Stimmengewirr beherrscht nun den Raum, und so manch einer will seine verborgenen Künste zum Besten geben.

Man beschließt, die Einkaufspassagen und Fußgängerzonen aufs Korn zu nehmen.

Als etwas Ruhe eingetreten ist, entfährt es der Küchenfrau: „Und was machen wir, wenn nun alle ausgeflogen sind?“

„Mal Sonderurlaub“, rufen alle im Chor.

(c) Joachim Schnell (Erben) / Berlin

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Titel Horror im Advent

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Finale

Finale

Hildegard Iverson – Frühjahr 2019

„Ich bin doch keine Wanderdüne!“ brüllte ich, als er die Tür hinter sich zuknallte. Die Bohrmaschine, die ich ihm hinterherwarf, verfehlte ihn knapp und zersplitterte am Türrahmen.

Kurz zuvor hatte er mir noch stolz eröffnet, dass wir wieder umziehen würden – eine weitere Stufe auf seiner Karriereleiter! Das war nun das dritte Mal in sieben Jahren.

Letzte Woche noch hatte er darüber gelacht, dass ich meinen Hustensaft aus einer Mehrwegflasche trank. „Besser für die Umwelt“ hatte ich gemurmelt. „Klar, bei deinem Konsum! Du säufst das Zeug ja auch wie ein Kamel!“

Ich hatte ihm nicht erzählt, dass ich seit einiger Zeit im Methadonprogramm bin, um endlich vom Heroin loszukommen. Er hatte es nicht einmal bemerkt, dass ich an der Nadel gehangen hatte. Es hätte ihn wahrscheinlich auch nicht interessiert.

Immer und immer wieder umziehen, keine Freunde und keine gescheite Arbeit finden, so gar keine Wurzeln schlagen können, das hatte mich auf die Dauer fertiggemacht.

Im letzten Jahr hatte ich mir einen großen Wunsch erfüllt und einen kleinen Gemüsegarten angelegt. Den sollte ich nun wieder aufgeben müssen?

In meinem großen, alten Ohrensessel genoss ich jetzt, wie der Mondschein den Rauhreif auf meinem Spinat glitzern ließ und fühlte mich endlich angekommen. Eine kleine Wolke zog langsam am Mond vorbei und sah aus, als würde sie mir zulächeln.

(c) Hildegard Iverson / Krefeld

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Finale

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