Petras Hörspiel-Puzzle – 12.09.23, 20:00

Petras Hörspiel-Puzzle
Freizeit,Kultur,Kunst,Vortrag
Beginn ist am Dienstag, dem 12. September 2023, um 20:00 Uhr. Das voraussichtliche Ende ist gegen 20:50 Uhr.
Petra Bohn erzählt auf der BLAutor Lesebühne, wie sie leidenschaftlich Hörspiele erstellt. Da die technischen Aufnahmen nicht in einem einzelnen Studio entstehen, sondern von den mitwirkenden Sprechern und Sprecherinnen wie bei einem Ping-Pong-Spiel jeweils daheim aufgenommen und dann erst bei Petra mit Hilfe eines Tonbearbeitungsprogramms zusammenkommen, so gleicht das Ganze einem akustischen Puzzle-Spiel. Selbstverständlich wird dem werten Auditorium auch ein fertiges Hörspiel dargeboten. Lassen Sie sich überraschen.
Zielgruppe sind Hörspiel-Fans.
Es werden mindestens 1 Teilnehmer benötigt und unbegrenzt viele zugelassen.
Der Zugang erfolgt über:

  1. Zuhören mit dem Blindzeln-Web-Radio unter dem Link:
    https://live.radio.blindzeln.org/1
  2. Gebt eurem Amazon-Assistenten den Befehl: Alexa starte Blindzeln eins!
  3. Mit dem Handy oder dem Telefon während und nach der Radiosendung live teilnehmen:
    Telefonnummer: 091114898539.
    Raumnummer: 125 plus die Raute-Taste.
    Pin 9174 (ohne Raute-Taste
  4. Teilnahme live per Teamtalk unter
    diesem Link.

Zufall

Zufall

Anneliese Useldinger

“Welch ein Zufall!” oder “Der Zufall wollte es, dass”, so beginnen viele Leute eine Geschichte aus ihrem oder dem Leben anderer, eine aufregende Beo-bachtung oder was sie sonst anderen gern erzählen möchten. Da fällt etwas zu, es kommt etwas auf einen zu – plötzlich, unerwartet oder gar wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Später stellt sich dann manchmal heraus, dass es gar kein Zufall war, dass da jemand nachgeholfen hat, um anderen Schaden zuzufügen, oft sind vermeintliche Autounfälle geplant und genau ge-zielt, dabei sollen sie wie Zufälle aussehen. Jedoch spielt manchmal auch eine positive Absicht mit: da versteckt sich ein Wohltäter, und der Betroffene soll an einen Zufall glauben. Dem gegenüber passiert es nicht selten, daß so ein Zu-fall Rätsel aufgibt, Staunen, Verwunderung, Freude und Hoffnung oder gar Angst, Entsetzen oder noch Schlimmeres auslöst. Die meisten Erfindungen beruhen auf dem Prinzip Zufall.

In einem schlauen Buch habe ich gelesen, daß wir diese Pseudoerklärung Zu-fall gern dann benutzen, wenn wir nicht wissen, warum etwas so ist, wie es ist. Zufall heißt für uns, dass uns oder wem auch immer unabsichtlich etwas zu-fällt. Es steckt kein Plan und kein Gesetz dahinter.

Aber hier korrigieren uns die Weisen. Sie sagen: All dies fällt uns aufgrund ei-nes ewigen, unabänderlichen Gesetzes zu. Dabei fallen mir die Gedanken der beiden schweizerischen Reformatoren Zwingli und Calwin ein, die auch glaub-ten, alles sei dem Menschen vorher bestimmt, wobei dieser Fatalismus dem freien Willen des Menschen nur wenig Spielraum läßt. Also darf es auch kei-nen Zufall geben, sei er noch so rätselhaft und unvorhersehbar.

Ob ich einen alten Freund zufällig in der Stadt treffe, ob der Prüfer beim Ex-amen zufällig die Frage stellt, auf die ich vorbereitet bin, ob mir zufällig ein Ziegel auf den Kopf fällt, oder ob mich ein streunender Hund beißt, oder ob ich ein Verkehrsmittel noch erwische, das verspätet ankommt, obwohl ich nicht rechtzeitig an der Haltstelle war – das alles muß so sein, obschon wir anneh-men können, dass es genau so gut anders hätte sein können. Die Weisen meinen, es war so und nicht anders für uns bestimmt, denn auch die zufälligen Ereignisse seien uns geschickt – unser Schicksal!

Diese Aussage der Weisen kann uns leicht schockieren, wenn wir bedenken, wofür heute der Zufall alles herhalten muß. Neuerdings sprechen die Börsianer sogar von dem „gezähmten“ Zufall. Dabei handelt es sich höchstwahrscheinlich um irgendwelche Tricks, um die Profite anzuheben. So wird auch der Zufall mißbraucht und sinnentstellt. Und manch-mal ist es sogar ratsam, eine zunächst zweifelhafte Sache einfach dem Zufall zu überlassen.

Wohl niemand kann den bunt schillernden Zufall-Variationen entrinnen, dabei scheint es mir sehr wichtig zu erkennen, ob so ein Zufall echt ist oder nicht und ob er unsere Reaktion erfordert. Ein Bekannter hatte per Zufall eine Welt-reise gewonnen, er hätte als Blinder sogar eine sehende Freundin mitnehmen können, doch er ließ diesen schönen Zufall einfach verfallen.

Die Entstehung des Universums, die Entstehung des Lebens und unse-rer eigenen Existenz, Naturkatastrophen, Vulkanausbrüche, Brände, E-rosionen und vieles mehr – sind das alles Zufälle? Und wie gehen wir in unserem Leben mit diesem Zufall um, mag er vorherbestimmt oder ganz einfach unerwartet auf uns zukommen? Ich möchte mich nicht zu sehr in die eine oder andere Richtung der Zufallursache verirren, besser gelas-sen bleiben und versuchen, das Beste daraus zu machen.

(c) Anneliese Useldinger / Bonn

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Zufall

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Wie ich nach Bonn kam

Wie ich nach Bonn kam

Anneliese Useldinger

Bevor ich nach Bonn kam, war ich in Deutschland herumgezogen. So konnte ich mir damals nicht vorstellen, hier für immer zu bleiben. Aber das Leben hatte es wohl anders für mich geplant. Inzwischen sind bereits 45 Jahre vergangen, das Alter hat mein Herumtreiben auf gelegentliches Träumen von anderen Welten begrenzt, und so werde ich wohl hier mein Erdendasein beenden.

Als Albino mit hochgradiger Sehschwäche hatte ich nach einem Musikstudium, abrupt beendet durch die Währungsreform 1948, in einigen Berufen experimentiert mit dem Ergebnis, dass mein Sehrest nicht ausreichte. Als mein Vater 1958 an Lungenkrebs erkrankte und sein Tod schon absehbar war, musste ich mich darum kümmern, eine eigene Existenz aufzubauen. Der Weg zum Arbeitsamt in Trier resultierte in der einzigen Empfehlung: Umschulung in der Landesblindenanstalt in Neuwied. Kurz vor dem Examen vor der Industrie- und Handelskammer schickte man mich wieder zum Arbeitsamt, diesmal auf der Suche nach einer Stelle als Stenotypistin. Natürlich wollte ich nicht nach Hause, nicht nach Trier, sondern in eine größere Stadt.

Musik und Fremdsprachen sind etwas miteinander verwandt. Inzwischen hatte ich mich mit Englisch und Französisch beschäftigt und Gefallen daran gefunden. Daher schwebte mir vor, im Auswärtigen Amt in Bonn eine Stelle zu finden, um meine Sprachkenntnisse erweitern und entfalten zu können. Doch mein Antrag bei dieser Behörde wurde abgelehnt. Viel später erfuhr ich durch einen blinden Sachbearbeiter, dass der Beamte, der meine Bewerbung zu Gesicht bekommen hatte, kurz zuvor eine blinde Telefonistin hinauskomplimentieren musste, weil sie den Anforderungen in der Telefonzentrale dieses hohen Amtes nicht gewachsen war. Und der hatte sich geschworen: einmal eine Blinde, nie mehr eine Blinde! Aber es gab noch andere Ministerien, und das nicht gerade wenige.

In meinem Leben klappt fast nichts beim ersten Anlauf, es müssen deren mehrere unternommen werden, und es kommt gar nicht so selten vor, dass auch nach fünf oder zehn solcher Anläufe der Erfolg ausbleibt. Ich musste lernen, damit zu leben.

Es meldete sich das damalige Bundesschatzministerium und lud mich zum Vorstellungstest am 7. Juli 1960 in eine alte Villa am Rheinufer in Bad Godesberg ein. Nach all dem Büffeln und Üben auf Schreib- und Blindenschrift-Stenomaschine in Neuwied fiel es mir nicht schwer, diese Hürde zu nehmen. Eine Planstelle gab es zwar noch nicht, aber ich durfte trotzdem am 1. August in der Bauabteilung des Bundesministeriums in Bonn-Nord anfangen.

Nun erhob sich die Frage der Unterkunft. Vor 14 Jahren wollte ich in Köln an der dortigen Musikhochschule studieren, konnte jedoch bei der sehr schwierigen Nachkriegswohnungssituation mit ausgedehnten Trümmerfeldern und meinem Mangel an Kompensationsmitteln, wie z.B. Lebensmitteln, Bohnenkaffee und ähnlichem absolut keine Bleibe finden, ahnte jedoch nicht, dass ich nach einigen Jahrzehnten hier in Bad Godesberg heimisch werden sollte –

Für Neuzugänge gab es im Personalbüro des Ministeriums eine Liste mit Zimmerangeboten. Überrascht und dankbar nahm ich die Gelegenheit wahr, mit einer netten Dame, eigens dazu beauftragt, mit mir zu einem gerade frei gewordenen Zimmer zu fahren und möglichst gleich zu mieten. Ein älteres Ehepaar in Grau-Rheindorf bot dieses Zimmer im 1. Stock an. Es war ziemlich verwohnt, dagegen meine Ansprüche bescheiden, die Leute freundlich und der Weg zu meiner neuen Dienststelle in knapp 20 Minuten Fußweg ohne große Schwierigkeiten zurückzulegen. Nun kam der Hammer, als es um die Miete ging. Die Hausbesitzer wollten tatsächlich die ganze Miete von 70 Mark für den gerade begonnenen Monat Juli von mir haben, also im voraus, wogegen nach damaligen Gepflogenheiten nichts einzuwenden war. Aber ich war arm wie eine Kirchenmaus. Während der knapp zwei Jahre meiner Ausbildung in Neuwied bekam ich im Monat mal eben 30 Mark Taschengeld. Das reichte nicht für mal eine Tasse Kaffee oder einen Friseurbesuch, denn ich musste alle 14 Tage nach Hause fahren und meine Mutter besuchen, deren Witwenrente zu ihren Ungunsten falsch berechnet war, was erst nach mehreren Jahren herauskam – sie betrug noch keine hundert. Mark. Die Landesblindenanstalt in Neuwied war zu meiner Ausbildungszeit in einem unglaublich schlechten Zustand. Wir hungerten mitten im Wirtschaftswunder, weil die Bücher gefälscht wurden und das Geld in falsche Taschen verschwand. Das Blindengeld von damals 110 Mark verschlang die Schule total. Ich hatte niemanden, der mir mal mit ein paar Mark ausgeholfen hätte. Und jetzt sollte ich dieses Vermögen von 70 Mark aufbringen, für nichts und wieder nichts, nur damit ich am 1. August einziehen konnte. Ich erklärte verschämt meine prekäre finanzielle Lage und bat um Verständnis und Entgegenkommen. Diese Leute hatten alles im Leben gehabt, nichts verloren, der einzige Sohn in guten Verhältnissen als Geschäftsmann; sie waren eifrige Kirchgänger, aber die christliche Nächstenliebe war für sie ein Fremdwort. Schließlich einigten wir uns auf den halben Mietpreis von 35 Mark für den Juli, was für mich immer noch ein Vermögen bedeutete. Ich weiß heute nicht mehr, wie ich dieses viele Geld auftreiben konnte, nur eines ist sicher: ich habe es nicht gestohlen. Als ich am 1. August zu meiner Dienststelle ging, hatte ich gar kein Geld mehr. Nach meinen kleinen Umzügen von Konz bei Trier nach Neuwied und dann mit meinen „sieben gebackenen Birnen“ nach Bonn waren die letzten Pfennige aufgebraucht.

Wiederum verschämt fragte ich die sehr netten Damen im Büro, ob ich wohl um einen Gehaltsvorschuss bitten könne. Die Sekretärin des Unterabteilungsleiters riet mir, das besser zu lassen, da es für den Anfang einen schlechten Eindruck mache. Sie bot mir an, bis zum Gehaltsempfang am 15. des Monats 20 Mark zu leihen, damit ich wenigstens mittags in der Kantine essen konnte. Das habe ich ihr nie vergessen. Als mir nach noch nicht drei Monaten eine andere, eine richtige Sekretärinnenstelle in Bad Godesberg angeboten wurde, habe ich, zwar mit Bedauern wegen der selbständigen Arbeit und des höheren Gehalts abgelehnt und meine Probezeit bis zum Ende und noch viele Jahre mehr im öffentlichen Dienst durchgestanden, was ich nicht zu bereuen habe. Nach den ersten zehn Tagen in Rheindorf hörte ich an diesem Mittwochnachmittag – ich war noch nicht lange vom Büro zurück in meiner altmodischen, aber geräumigen Behausung – von der Straße her Musik und Lachen. Auf meine Frage nach dem Grund dieser werktäglichen Veranstaltung wurde mir berichtet, dass nach altem Brauch die Kirmes zu Ende ging mit dem Tanz auf der Straße. Der Zacheies, eine lebensgroße monströse Puppe, war der stumme Star der ganzen Chose. Jeder musste mit ihm tanzen, wie es sich gerade ergab, und wehe dem, der ablehnte. Das kostete Runden in der Wirtschaft, wohin sich die müden und durstigen Tänzer zum Abend hin begaben. Bei Einbruch der Dunkelheit wurde dann der Zacheies auf einen Schubkarren geladen und in Richtung Rheinufer gefahren. Dort steckte man ihn in Brand und übergab ihn den nassen Fluten des Stromes, natürlich mit viel Geschrei und Gejohle. So erlebte ich Rheindorf als Keimzelle Bonns und Hort alten Brauchtums. Einmal war ich auf einem Erkundungsgang in Richtung Hafen unterwegs. Mit meinem kleinen Sehrest fand ich mich nicht mehr zurecht, ich hatte zuviel gewagt. Da plötzlich sprach mich mein Hausherr an. Er war mir besorgt nachgegangen und brachte mich jetzt von meinem Irrweg wohlbehalten zurück zu seinem und auch meinem Domizil. In meinem möblierten Zimmer machte ich einige kuriose Entdeckungen: Die Matratze des breiten Bettes war auf ihrer Unterseite von einem dicken schwarzen Hakenkreuz gezeichnet, und sie machte bei der geringsten Drehung Musik. Vielleicht kam sie aus Wehrmachtsbeständen? Die Couch quietschte ganz erbärmlich, sogar bei ruhigem Sitzen. Ich war nicht die einzige Untermieterin in diesem Haus. Die Bekanntschaft mit meiner Nachbarin direkt nebenan geschah auf eine ungewöhnliche und schreckliche Weise. Eines Abends konnte ich nicht einschlafen, weil das Radio von nebenan immer ein bisschen lauter wurde. Es war bereits Mitternacht, da hörte ich ein Stöhnen. Sofort stand ich auf und suchte den Hausherrn. Er kam schnell und öffnete die Tür mit seinem Schlüssel. Da lag sie mitten in einem Selbstmordversuch. Die Ambulanz wurde gerufen und war nach wenigen Minuten da. Man trug sie hinunter. Wir standen noch ziemlich ratlos da und forschten nach einer Ursache für dieses Geschehen. Niemand wusste, was dieses junge Mädchen zu einer solchen Tat veranlasst haben könnte. Am nächsten Tag war das Zimmer ausgeräumt, und der besorgte Hausvater zeigte mir die völlig durchnässte Matratze – vielleicht auch mit Hakenkreuz? Er bedauerte, dass diese Unterlage nicht mehr zu gebrauchen war. Dieses Erlebnis wurde für mich zum Signal, mich schnellstens um eine Bundeswohnung zu kümmern. Und die flog mir zu. Schon nach wenigen Tagen konnte ich umziehen. Später, als die dort noch vorhandene Zweitmieterin ausgezogen war, kam eine blinde Freundin aus Koblenz hinzu. Die Pro-Kopf-Quadratmeter der Bundeswohnungen waren knapp bemessen, zumal für Ledige. Ich habe nicht mehr erfahren, was aus der lebensmüden Zimmernachbarin geworden ist. Noch dreimal bin ich in Bonn umgezogen. Nach Duisdorf und Endenich kam ich nach Bad Godesberg. Ich hatte diesen Stadtteil gewählt, weil meine Dienststelle dorthin umziehen sollte, aber das war nur ein Gerücht. Und dennoch, ich war hier endlich angekommen. Bonn bietet ein reiches Kulturleben, viele Gelegenheiten zur Freizeitgestaltung und ist mit einer guten Infrastruktur versehen. Wenn ich von irgendwoher zurückkomme, spüre ich immer wieder die starke Anziehungskraft dieses Magneten, an den ich mich gebunden habe und nicht mehr loskomme.
Danke, Bundesstadt Bonn, dass es dich gibt!

(c) Anneliese Useldinger / Bonn

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Wie ich nach Bonn kam

BLAutor – Arbeitskreis blinder und sehbehinderter Autoren – www.blautor.de

Über das größte Geschenk an die Blinden

Über das größte Geschenk an die Blinden

Anneliese Useldinger

Das Jahr 2009 ist gespickt mit Jubiläen. Wohlbekannte Größen wie Felix Mendelssohn-Bartholdy und Charles Darwin hatten vor 200 Jahren Geburtstag, Georg Friedrich Händel starb vor 250 und Joseph Haydn vor 200 Jahren und der Apostel Paulus wurde vor 2000 Jahren geboren. Aber auch eine Minderheit unserer Gesellschaft: Blinde und Sehbehinderte feiern den 200. Geburtstag eines genialen Erfinders, der, selbst erblindet, seinen Schicksalsgefährten eine taktile Schrift schenkte, ohne die ihre heutige Situation undenkbar wäre.

Ich glaube, dass dieser Louis Braille, der schon mit 16 Jahren eine Reliefschrift erfand, wie auch sein Wegbereiter Valentin Haüy und Hauptmann Barbier nebst einigen anderen Werkzeuge der gütigen und erbarmenden Liebe Gottes waren, um dem bis dahin fast ausschließlichen Bettlerdasein blinder Menschen – zumindest in einem Teil der Welt – ein Ende zu setzen, indem sie ihnen eine schreib- und lesbare Schrift schenkten und sie damit in die menschliche Gesellschaft integrierten. Das wurde mir bewusst, als ich vor 50 Jahren diese faszinierende Tastschrift erlernen musste, die für mich zum Schlüssel zu einem selbständigen Leben wurde.

Es war ein höchst sonderbares kleines Orchester, das da im Jahre 1771 vor einem Pariser Cafe-Haus auf dem St.-Ovide-Markt seine Musik und bizarre Theaterszenen darbot. Der Kapellmeister thronte als König Midras mit Eselsohren auf einem Pfau. Die anderen Spieler trugen riesige Pappbrillen auf der Nase und hohe Hüte auf dem Kopf. Was diese exotisch gewandeten Scheinmusiker mit ihren dissonierenden Geigen von sich gaben, klang jämmerlich. Zwar hatten sie Noten vor sich auf den Pulten, die verkehrt herum standen zum Spott für diese Blinden.

Die Zuhörer rings herum klatschten begeistert, schlugen sich auf die Schenkel; sie prusteten und wieherten ob dieses komischen Anblicks. Der Wirt, der diese seltsamen Darbietungen angeboten hatte, konnte sich wieder einmal genüsslich die Hände reiben, hatte diese Blindenkapelle erneut für regen Zulauf zu seinem Cafe und damit für ein gutes Geschäft gesorgt.

Nur einer, der auch zusah und zuhörte, beteiligte sich nicht an dem Lachen und Gejohle der Menge, er stand still und traurig abseits. Valentin Haüy war Zeuge eines zu dieser Zeit üblichen „Blindenkonzerte“, bei denen Blinde zur Ergötzung des Pariser Pöbels in närrischer Maskierung mit einer Art Katzenmusik aufwarteten. Der Anblick dieser armen Blinden, die in roher Weise zur Belustigung eines Publikums präsentiert wurden, das sich keinerlei Gedanken über das Schicksal und die Entwürdigung dieser blinden Menschen machte, bewegte den französischen Gelehrten und Beamten Valentin Haüy und gab einem schon lange von ihm gehegten Plan neue Nahrung.

Etwas mehr als 40 Jahre später: Schauplatz war diesmal eine Sattlerwerkstatt in dem Dörfchen Coupvray bei Paris. Ein kleiner Junge, der auch an diesem Tag des Jahres 1812 am Arbeitsplatz seines Vaters spielte, wo er sich am liebsten aufhielt, sammelte in diesem schummrigen Raum, wo es nach Leder und Säure roch, die Abfälle auf, die dem mit sicherer Hand geführten Messer des Vater zum Opfer fielen, und setzte die Stückchen, Streifen, Dreiecke und Halbmonde zu neuen lustigen Figuren zusammen. Wieder einmal war der Meister in seine Arbeit vertieft. So hatte er nicht wahrgenommen, dass sein Sohn klammheimlich die spitze Ahle vom Werkzeugtisch genommen hatte. Oft schon hatte der Kleine dem Vater zugeschaut, wie dieser kunstgerecht das Leder zuschnitt. Jetzt wollte er es ihm gleichtun. Doch das Lederstück erwies sich als zu hart; des nadelspitze Messer glitt ab und schoss in das linke Auge des Kindes. Die Verletzung war so schwer, dass der Junge die Sehkraft des linken Auges sofort und die des anderen – vermutlich durch eine Infektion – zwei Jahre später verlor. Das von Valentin Haüy auf dem Saint-Ovide-Markt miterlebte erbärmliche Musikspektakel und das tragische Unglück des Louis Braille in der Werkstatt seines Vaters – diese beiden Ereignisse sollten in die Geschichte eingehen und für blinde Menschen weltweit entscheidende Veränderungen zu einem besseren Leben nach sich ziehen.

1784 gelang des Haüy, sein lang gehegtes Vorhaben in die Tat umzusetzen. In Paris gründete er die erste Blindenschule der Welt und machte damit den Anfang, auch armen Blinden den Zugang zu Erziehung, Bildung und Beschäftigung zu bieten und sie aus dem Dunkel der Unwissenheit und von dem Missbrauch durch Profiteure zu befreien. Seine Begegnung mit der blinden Österreicherin Maria Theresia von Paradis, einer berühmten Sängerin, Organistin und Komponistin, bewog ihn dazu, an die Bildungsfähigkeit blinder Menschen zu glauben und die armen Scheinmusikanten wie auch die vielen Bettler von den Pariser Straßen in seiner Schule zu belehren und ihnen ein besseres Leben zu gewährleisten. so schrieb er: „Es darf nicht sein, dass Blinde wie Ausgestoßene dahinvegetieren. Ich will alles tun, um diese Unglücklichen in ein menschenwürdiges Dasein zurückzuführen. Haüy ist es nicht nur zu verdanken, dass die Idee der Bildungsfähigkeit blinder Menschen sich immer stärker durchsetzte und nach und nach auch in den anderen europäischen Hauptstädten Blindenschulen entstanden, er führte erstmals auch einen Reliefdruck ein. Allerdings beschränkte sich sein System darauf, lediglich die lateinischen Buchstaben tastbar wiederzugeben. Aber einen wirklichen Zugang zu Wissen und Bildung brachte dieser Reliefdruck nicht für die Blinden. Diese Schrift konnte man zwar entziffern, jedoch keinesfalls flüssig lesen oder gar schreiben. Das Tor zum Lesen und Schreiben und damit zu einem geistigen Leben das stieß erst Louis Braille auf.

Nach dem Verlust seines Augenlichts wurde Louis Braille von seinen Eltern mit viel Liebe und Verständnis erzogen. Sie förderten vor allem seine manuelle Geschicklichkeit. Zunächst besuchte er die Dorfschule von Coupvray. Er war ein guter und aufmerksamer Schüler, auch wenn er damals noch nicht lesen und schreiben konnte.

Am 15. Januar 1819 trat der Zehnjährige in das Institut von Haüy ein, das erst als Privatschule existierte, aber inzwischen vom französischen Staat übernommen worden war. Auch hier zeichnete sich der Junge dadurch aus, dass er das Wesentliche einer Sache schnell und scharf erfassen und exakt wiedergeben konnte. Diese Eigenschaften waren sicherlich eine gute Voraussetzung für seine spätere Erfindung.
Am 21. April 1821 tauchte Charles Barbier, ein ehemaliger Artillerie-Hauptmann, im Blindeninstitut auf und stellte dort die von ihm entwickelte taktile Nachtschrift vor. Sie sollte es im Kriegsfall den Soldaten ermöglichen, ohne Entzünden eines Lichtes wichtige Meldungen zu lesen. Dabei konnten sie mit ihren Fingerspitzen erhabene Punkte ertasten, die der Absender der Botschaft mit einem stumpfen Stichel in festes Papier gedrückt hatte. Diese seine Nachtschrift entwickelte Barbier dann weiter zum Gebrauch durch Binde. Er entwarf eine Lautschrift, die mit 6 Punkten in der Höhe und 2 Punkten in der Breite die Grundlaute der französischen Sprache in verschiedenen Gruppierungen wiedergab.

Louis, gerade 12 Jahre alt, war von Barbiers System begeistert. Doch schon bald begriff er, dass diese Schrift nicht ausgereift und viel zu kompliziert war. Für nur einen Buchstaben wurden mitunter bis zu 12 Punkte gebraucht. Orthographie, Interpunktion und mathematische Zeichen waren nicht möglich. Aber warum benötigt ein Blinder – so fragte sich Louis Braille – Tausende von Zeichen, wenn das Alphabet nur 24 davon umfaßt. Doch die Idee einer taktilen Schrift für Blinde ließ ihn nicht mehr los. Nächtelang grübelte er darüber und probierte dieses und jenes aus.

1825 – endlich – hatte der Sechszehnjährige dank seines beharrlichen Willens und seines klaren logischen Denkens den „Stein der Weisen“ gefunden. Er verringerte die Zahl der Punkte auf 6, angeregt durch das Würfelspiel, bei dem er sich immer über einen Sechser heftig freute. Und aus dieser Grundform ließen sich 63 Kombinationen bilden, die relativ leicht umzusetzen waren. Nicht nur die Buchstaben des Alphabets, sondern auch Ziffern, Satzzeichen und vieles mehr wurden möglich. Später entwickelte er, der selbst gern Orgel spielte, auch ein System für Musiknoten.

Louis Braille hat nie geleugnet, dass er die Anregung zu seinem Blindenschrift-Alphabet dem Hauptmann Barbier verdankte; er selbst hat sich stets nur als „Vereinfacher“ oder „Ausgestalter“ bezeichnet. Doch mit dieser Einschränkung war er wohl zu bescheiden. Was er von Barbier übernommen hatte, ist ganz gewiss die großartige Idee mit den erhabenen Punkten. Ansonsten hat er jedoch ein grundlegend neues System geschaffen – und das in einer Verbindung von Einfachheit und Genialität, die vielen großen Werken eigen ist. Trotz des offensichtlichen Vorteils des 6-Punkte-Alphabets setzte sich dieses wie alles Neue nicht gleich durch. Vor allem bemängelten die sehenden Fachleute, dass diesem System jede äußere Ähnlichkeit mit dem Alphabet der Sehenden fehle. Aber Braille gab den Kampf um seine Erfindung nicht auf. 1850, ein Vierteljahrhundert danach, war es dann endlich soweit, dass sein Tast-Alphabet von der Pädagogischen Akademie Frankreichs anerkannt und im Pariser Blindeninstitut eingeführt wurde. Von da an trat die Braille-Schrift ihren Siegeszug rund um die Welt an.

Die öffentliche Ehrung für seine große Leistung wurde dem genialen Schöpfer der Blindenschrift freilich erst zuteil, als er, der seit seinem 20. Lebensjahr mit einer Lungenerkrankung rang, auf dem Sterbebett lag. Sein Vaterland Frankreich sprach ihm die höchste Auszeichnung zu, den Orden der Ehrenlegion. Doch dieser Orden konnte ihm nicht mehr übergeben werden, denn dieser stille und bescheidene Louis Braille starb am 16. Januar 1852, nur 43 Jahre alt. Hundert Jahre nach seinem Tod wurden seine Gebeine vom Friedhof seines Heimatdörfchens ins Pantheon, die Grabstätte berühmter Franzosen überführt. Alle vier Jahre wird der Louis Braille-Preis verliehen.

In einem Marmorkästchen sind nur seine Hände als sinnreiches Symbol in seinem Heimatort verblieben. Ein würdiges Denkmal am Straßenrand zeigt Louis Braille, wie er einem kleinen blinden Mädchen die Hand über sein Punktschriftblatt führt.

Für das große Werk Louis Brailles trifft in besonderer Weise ein Ausspruch zu, der von Gottfried Wilhelm Leibnitz stammt:
„Wer seine Schüler das ABC gelehrt hat, der hat eine größere Tat vollbracht als der Feldherr, der eine Schlacht geschlagen“.

(c) Anneliese Useldinger / Bonn

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Tauben im Park

Tauben im Park

Anneliese Useldinger

Da liegt doch was, da liegt doch was, schnell renn ich hin.
Dass du das kriegst, allein für dich, das macht doch keinen Sinn.
Die dritte kommt mit Flügelschlag, voll Zorn den anderen sagt:
„Weh der, die meint, das wär‘ für sie, weh der, die solches wagt.“
Die vierte fliegt ganz rasch heran und schimpft die andern aus:
„Den größten Hunger den ich hab‘ ich, drum schmeiß‘ ich alle raus!“
Zwei and’re trippeln schnell herbei und streiten heftig mit,
um was denn nun, so klitzeklein, vielleicht ein Stück Bomfritt?

Das Taubenvolk dreht sich und pickt und gibt gar keine Ruh‘!
Vergnügt sitz‘ ich und schau gespannt dem bösen Spiele zu.
Wer nun gesiegt, das Stück verschluckt, das kann ich gar nicht sehn.
Auf einmal dann, weil nichts mehr lockt, die Tauben alle gehn.

Das Spiel ist aus, doch anderswo wird es schon bald beginnen.
So sind sie mal, die Stärkste hat mit Gier das Stück genommen.
Ein kleines Spiel, so denk‘ ich mir, geht um das eig’ne Wohl.
Die Menschen tun es noch viel mehr mit List und Tücke voll.

So geht es auf der ganzen Welt bis zum Jüngsten Tage.
Der Richter kommt, kein einz’ger flieht, der richtet nun die Waage.
Der Habgier Frucht, unzählbar viel, senkt tief hinab die Schale.
Das Weh und Ach, es kommt zu spät, da droht die Höhlenquale.

Doch keiner will im Hier und Jetzt davon ein Wort nur wissen,
die alte Lehr‘ ist stumm und fahl, wer sollte sie vermissen?

So geht es weiter Tag und Nacht, ’s wird überall gestritten,
es ist ganz gleich, um was es geht, vorbei die guten Sitten!

Das Tier, es nimmt nur, was es braucht, den Hunger rasch zu stillen.
Der Mensch jedoch hört niemals auf, die Taschen neu zu füllen.

(c) Anneliese Useldinger / Bonn

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Tauben im Park

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Reisebericht Österreich: Tierparadies Aiderbichl

Reisebericht Österreich: Tierparadies Aiderbichl

Anneliese Useldinger

„Man sieht nur mit dem Herzen gut …“
das sagt der kleine Prinz im gleichnamigen Werk von Saint-Exupery Und dieses Motto möchte ich über den Höhepunkt einer Busreise stellen, die schon im vorigen Jahr vom Blinden- und Sehbehindertenverein Bonn/Rhein/Sieg e.V. geplant wurde und in diesem Jahr 2008 durchgeführt werden konnte.

Am Samstag, dem 19. April 2008, mußten wir 28 Teilnehmer samt fünf Blindenführhunden mitten in der Nacht das Bett verlassen, um pünktlich um Acht Uhr früh abfahrbereit im Bus zu sitzen. Die Fahrt begann bei trockenem Wetter, aber nach Frankfurt/Main prasselte der Regen aufs Busdach, und in den Fahrpausen wurden Schirm oder Regenhaube gebraucht. Nach München riß die Wolkendecke auf, und wir kamen im Sonnenschein im Zielort an. In der kleinen Stadt St. Georgen in Vorarlberg/Oberösterreich nahm uns das Hotel „Grüner Baum“ auf, ein schmackhaftes Abendessen rundete diesen langen Tag ab.

Nach heftigen Regengüssen in der Nacht erwartete uns der schönste Frühlingstag dieser Reise, ein Bilderbuchsonntag! Am frühen Nachmittag ging die Fahrt zum Attersee, dem größten Alpensee Österreichs. Es war nicht ganz leicht, einen passenden Busparkplatz zu finden, da – wie an den meisten Seen – die oft nur schmalen Ufer überwiegend in Privatbesitz waren, zumal an den schönsten Ausblicken auf See und die noch teilweise schneebedeckten Bergspitzen. Schließlich entdeckte unser Fahrer doch ein hübsches Plätzchen, wo wir zu einem kleinen Spaziergang geschickt wurden, während dessen fleißige Hände zusammenklappbare Tische und Bänke aufstellten, an denen wir dann bei Kaffee und Kuchen die Sonne genießen konnten. Dann wurde wieder alles im Bus verstaut, und weiter ging die Fahrt entlang diesem zauberhaft schönen Seeufer. Zum zweiten Halt fanden wir eine Parkmöglichkeit in Seewalchen kurz vor der Brücke nach Kammer. Der größte Teil der Gruppe machte sich wieder auf den Weg, um neugierig auch das gegenüberliegende Ufer zu erkunden, andere blieben in Busnähe und sahen und hörten den zahlreichen Schwänen und Enten zu, die rasch heranschwammen in der Hoffnung auf Fütterung. Eine Hobby-Botanikerin war bei uns wenigen hier ruhenden geblieben und erklärte noch manches über die beim ersten Halt entdeckten Pflanzen, die sie als Sehende einigen Blinden liebevoll in die Hand gegeben hatte.

Am Montag, dem 20. April, starteten wir schon um 10 Uhr in Richtung Salzburg nach Henndorf zum Tierparadies Aiderbichl, nur 5 km von Salzburg entfernt. Michael Aufhauser, der von sich sagt: „Ich habe nur Glück gehabt!“, war es gelungen, dieses Gut Aiderbichl , ein liebliches Stück Land, wo schon die Kelten gesiedelt hatten und es Aiderbichl, d.h. Feuerberg nannten, zu einem Refugium für verwaiste, verletzte oder mißhandelte Tiere umzugestalten. Seine Mutter ist im Alter über 80 Jahre teilweise erblindet und Mitglied in unserem Verein in Bonn, wo sie auch schon länger lebt. Dank ihrer Vermittlung zwischen Vorstandsmitgliedern in Bonn und ihrem zweiten Sohn Michael in Aiderbichl konnte unser Besuch dort zum besonderen Erlebnis dieser Reise vorbereitet und gestaltet werden. In diesem Gut mit speziellen Wasserrädern und von Hügeln umrahmt sind überwiegend Nutztiere untergebracht, wo sie ihre schlimmen Erfahrungen mit Tierfeinden vergessen und den Rest ihres Lebens in liebevoller Betreuung verbringen können. Die schlafende Sau Rosa wurde sanft für uns aufgeweckt und grunzte vergnügt; eine Ziege mit schiefem Hals und Gehbeschwerden kreuzte unbefangen unseren Weg und ließ sich geduldig streicheln. Ein netter junger Pfleger erklärte uns Verhalten und Schicksale etlicher Rinder, darunter ein Albinokalb. Auch meine spezielle frage konnte er beantworten. Ich wollte wissen, selbst Albino, ob die Tieralbinos auch unter Sehschwäche leiden. Die Antwort war Nein. Nur bei greller Sonne müssen die Pfleger achtgeben auf so ein Albinotier, da ihre Haut mit zu wenigen Pigmenten Schaden erleiden könnte. Der weiße Truthahn punky fand Gefallen an unserer Gruppe und marschierte mit, da plötzlich entdeckte er die Führhunde, beschleunigte seine Schritte und setzte zur Attacke an. Als Antwort aufgeregtes Bellen und Entfernung der Hunde aus Punkys Route. Das Pferd Pippi Langstrumpf war indessen nicht begeistert von uns. Wir wurden gewarnt, ihm nicht zu nahe zu kommen. Es dauert oft lang, bis die hierher geretteten Tiere ihre schlimmen Erlebnisse mit bösen Menschen und ihre Angst vor ihnen überwinden können. Ein stolzer Pfau schrie laut und anhaltend und schlug sein Rad zur Freude der Fotojäger. Viele Prominente haben inzwischen Patenschaften für Tiere in Aiderbichl übernommen, so z.B. Thomas Gottschalk für den Stier David, der sich gern an seinem Wuschelkopf kraulen ließ

Einige Gänse schnatterten um die Wette, sie hatten freien Weg durchs Gelände. Das war anders bei einigen Lamas – und jeder wußte: Vorsicht, die könnten uns bespucken.In einem Gehege kuschelten zwei Wildschweine dicht aneinander, und auf der Tafel stand: „just married“, frisch verheiratet. Niemand störte das junge Glück. 16 Hunde hatten hier ein besseres Zuhause gefunden, und unsere Führhunde gesellten sich zu ihnen, um miteinander zu spielen. Auf unserem Rundgang drangen die verschiedenen Stimmen der hier lebenden Tiere an unser Ohr, und wir empfanden ihre Freude über Geborgenheit, geschützte Freiheit und die liebevolle Zuneigung der Menschen, die sie hier als ihre kleinen Brüder nach dem Schöpfungsplan achten und versorgen. Dann wurden wir in die Wohnung des Chefs im 1. Stock des Haupthauses gebeten. Ein geräumiges Wohnzimmer mit ausreichend Sitzmöglichkeiten nahm uns auf. Sekt und Saft wurden gereicht, und dann erzählte Michael uns seine Glücksgeschichte, die eines der ganz wenigen Millionäre, die mit ihrem Vermögen eine großartige Idee, eine Herzensangelegenheit und ein Vorbild in unserer so stark materialistisch geprägten Zeit verwirklichen. Das Gut Aiderbichl soll nicht nur Gnadenhof für von Menschen falsch behandelte Tiere sein, sondern auch Mahnmal und Anstoß zum Nachdenken über unsere Beziehung zum Tier, aber auch wie wir miteinander umgehen sollten, wie wir zu den Schwächeren, den Kindern, den Alten und den Behinderten unter uns stehen. Wir erfuhren, daß 60 % der Antibiotika-Produktion weltweit für die chemische Mast von Schlachttieren verwendet werden und nur 40 % den Menschen zugute kommen im Kampf gegen Krankheiten. Erschütternd waren Berichte über die Entsorgung von Tieren, ihre Lebensverkürzung, wenn sie nicht mehr voll von Nutzen sind, die Grausamkeit gegen wehrlose Tiere, nur aus schnöder Profitgier. Michael Aufhauser versteht es meisterhaft, nicht nur die Besucher, sondern auch die Medien, vor allem das Fernsehen zum Wohl und Verständnis seiner außergewöhnlichen Ideen einzuspannen und so das Glück seiner geretteten Tiere zu sichern.

Am 27. Juni ist im WDR-Fernsehen eine Wiederholung der Fernsehaufzeichnung geplant, die am 27. Mai in Bayern 3 ausgestrahlt werden soll. Ja, ohne das notwendige Geld für diese Aktion wäre sie nicht aufrecht zu erhalten. 4 1/2 Millionen Euro pro Jahr kostet dieser Gnadenhof, 11.000,- Euro pro Tag.- Michael Aufhauser gibt aus seinem Privatvermögen jährlich eine Million her, eine von ihm gegründete Stiftung und mehrere Sponsoren und prominente Paten helfen ihm, auch noch weitere solcher Tierparadiese zu gründen.

Um seiner großen Tierliebe besonderen Nachdruck zu geben, brachten seine Assistenten zunächst seinen Lieblingshund Snupi herein und gaben ihn zum Streicheln an uns weiter. Zwei Jahre lang war dieser Hund mißhandelt worden, und es dauerte ein ganzes Jahr, bis er seine Angst vor den bösen Menschen hier endlich überwinden konnte und die Menschen als seine Freunde erkannte. Schon mehrmals hatten wir das, und nun kam er, das lautstarke Krähen eines Hahns von außen vernommen, zu uns und ließ sich streicheln, wanderte von Schoß zu Schoß, von Arm zu Arm,, landete schließlich auf dem großen Tisch und genoß jede weitere Streicheleinheit, die er kriegen konnte. Auch dieser Angehörige einer aussterbenden Rasse, vermutlich der Rodeländer, hatte das glänzende braune Federklleid, wie ich es von ähnlichen Hühnern und Hähnen meiner Mutter kenne, dann intakt, wenn das Tier artgerecht, d.h. nicht in einem zu engen Käfig eingesperrt, sondern in frischer Luft herumlaufen und sandbaden darf. Dieser Hahn heißt „Mücke“, und wir waren alle begeistert, als unser VereinsVorsitzender gegen Ende des Treffens mit Michael Aufhauser verkündete, daß unser Blinden- und Sehbehindertenverein die Patenschaft für Mücke übernehmen will. Dann wurden noch zwei Wiesel hereingetragen und an uns weitergereicht. Anscheinend hatten diese beiden, schon im Sommerkleid, noch Angst, es gab leichte Kratzer auf den Händen, die jedoch gleich mit einem Pflaster versorgt wurden. Und dann kamen die Geschenke: ein großer Stockschirm mit der Aufschrift „Aiderbichl“ , für jeden ein Stofftier mit Stimme, die per Knopfdruck hörbar gemacht werden konnte, eine Tüte mit einer hübschen Tasse, die mit Fotos des bebauten Geländes geschmückt ist, ein Schlüsselring an einem rosa Schweinchen und – ähnlich wie es den Olympioniden in Peking vorgeschlagen wird – ein Plastikarmband mit der Aufschrift „Leben lieben. Aiderbichl“ sowie ein gelber Gurt mit derselben Aufschrift. Obendrein bekamen wir noch einen bildschönen Wandkalender. Diese Form der Werbung kann ich voll akzeptieren, denn sie ist für das Wohl der Tiere dringend notwendig. Voller neuer positiver Eindrücke und reich beschenkt verließen wir das Haus, das natürlich auch ein Restaurant samt Souvenir laden beherbergt, und beobachteten weiter die glücklichen Vierbeiner und gefiederten Zweibeiner des Gutes, bis es Zeit war, den Weg hinunter zu gehen, vorbei an einem sicher und geräumig eingezäunten Fuchs, zu unserem Bus, der uns wieder zum Hotel zurückbrachte

Abend und Nacht waren verregnet, und am nächsten Tag hielt dieser Dauerregen noch an. Ein Picknick am Bus fand entweder unter Schirmen oder im Bus statt, nachdem wir in St. Gielgen am Wolfgangsee gehalten hatten. Danach ging es weiter nach Bad Ischl, wo wir die Kaiservilla, etwas abgelegen, besuchten. Hier hatte die letzte österreichische Kaiserin Elisabeth, genannt Sisi, sich mit ihren Gästen erlesenen Tafelfreuden hingegeben.

Auch der nächste Tag war total verregnet, weshalb einige Mitreisende, auch ich, im Hotel blieben. Das Ausflugsziel der Gruppe war Bad Reichenhall in Bayern, und dort schien zeitweise die Sonne. Am letzten Ausflugstag, dem Donnerstag, hatte sich das Wetter zum Besseren verändert. Wir fuhren wieder in Richtung Salzburg und dann weiter über die Grenze, die kaum noch wahrnehmbar ist, nach Berchtesgaden. In Schönau am Königssee, einem der schönsten Seen Süddeutschlands, verließen wir den Bus und eilten der Schiffsanlegestelle entgegen. In edlem Smaragdgrün funkelnd, eingebettet inmitten gewaltiger Felswände, so präsentiert sich der tiefste See Bayerns (190 m) auf einer Länge von 8 km und einer Höchstbreite von bis zu 1250 m, der seit 100 Jahren von Elektrobooten im Halbstundentakt befahren wird. Berühmt ist das Echo der Trompetenklänge, die der Bootsführer erzeugt. Die kleine Halbinsel St. Bartholomä, deren Wallfahrtskirche mit ihren roten Zwiebeltürmen schon von weitem zu sehen ist, bietet frisch geräucherte Forellen oder Saiblinge in einer kleinen Gasthütte oder eine größere Palette an Köstlichkeiten im an die Kirche angrenzenden Historischen Gasthof. Es war angenehm, hier in der Sonne zu sitzen und sich zu stärken. Nach der Rückfahrt per Boot strebten wir wieder zu unserem Bus, der uns dann in die Stadt Berchtesgaden brachte. Wer noch nicht an den zahlreichen Verkaufsständen am Seeufer fündig geworden war, fand hier im Stadtzentrum (Nützliches oder Mitbringsel für die Lieben daheim.

Wir hatten gut gewählt, die letzte Fahrt auf den Donnerstag zu verlegen, denn der Freitag wurde vom Wetter her ziemlich ungemütlich mit Blitz und Donner und starkem Regen. Nach sieben Tagen Fahrt muß der Bus einen Tag stehen bleiben, wie es eine knapp einjährige Vorschrift will.

Am Samstag, dem 26. April, war unser letztes Frühstück auf halb sieben angesetzt, damit alle um halb acht mit Gepäck den Reisebus besteigen konnten. Über 700 km trennten uns von unserem Zuhause in Bonn und Siegburg. Die Fahrt verlief ohne Behinderungen. Im Rheinland empfing uns eine seit fast einer Woche nicht mehr erlebte Wärme, die uns zu schaffen machte, kamen wir doch aus dem südlichen Nachwinter. Schon um 18 Uhr stiegen die Siegburger und rechtsrheinischen Teilnehmer aus, und nach einer guten Viertelstunde waren auch die Linksrheinischen dran. Eine erlebnisreiche Busreise ging zu Ende. Die dabei gesammelten Eindrücke werden uns wohl noch lange im Gedächtnis haften bleiben. Dank allen Initiatoren und Organisatoren dieser Reise

(c) Anneliese Useldinger / Bonn

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Reisebericht Österreich: Tierparadies Aiderbichl

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November

November

Anneliese Useldinger

November, ein Monat, den mögen viele nicht,
weil dunkel und kalt er und hat wenig Licht.
Die Nebel mit Grau manche Tage verhüllen,
kein Vogelsang kann mehr die Lüfte erfüllen.
Vorbei sind die Herbsttage, hell und warm,
doch hat der November seinen eigenen Charme.
Er zeigt, wie die Kräfte zurück sich ziehen,
die Farben verebben, die Strahlen verglühen.
Die Natur gibt sich ganz nun der Stille hin
und ruhet sich aus nach dem weisen Sinn:
Vergehe und werde, wie in jedem Jahr,
sie weckt jetzt die Sehnsucht und Hoffnung fürwahr,
auf dass das Vergehen wird haben ein End,
wenn später im Jahr sich die Sonne wendt’.
Die fast kahlen Wipfel der Bäume laut rauschen,
erzählen Geschichten, wer kann ihnen lauschen?
Und zwischen den Bäumen die Nebelfraun schweben,
sie spielen Versteck mit Neigen und Heben.
Und noch ist die Zeit mit Geheimnissen voll;
die Knospen noch schlafen und träumen wohl
vom Frühling, dem nächsten, der sicher erscheint.
Fürs Menschenherz gibt’s keinen Grund, dass es weint.
Lass los deinen Kummer, vergiss deine Sorgen
und fühl‘ dich gelassen in Gott’s Hand geborgen.
Genieße die Stille, auch das Windgebraus
sowie schöne Stunden bei Kerzen im Haus.
Doch kann’s auch geschehen, wenn die Sonne strahlt,
daß Spätherbst ringsum mit viel‘ Farben malt.
Das Laub läßt den letzten Buntschimmer leuchten,
die Beeren in rot und in blau, und im feuchten
Grunde des Tales das Vieh friedlich weidet,
der Winzer die allerletzten Trauben schneidet.
Noch hält der Winter Schnee und Frost zurück,
erfüll diese Wochen mit dem Warten auf Glück!

(c) Anneliese Useldinger / Bonn

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November

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Neubeginn

Neubeginn

Anneliese Useldinger

Das Zur-Welt-Kommen bedeutet für jeden Erdenbürger den ersten Neubeginn, dem, wenn er am leben bleibt, noch etliche mehr folgen können. Vom Getragen- oder Gefahrenwerden muss das Menschlein erst mal auf die Füße kommen, stehen, gehen und sprechen lernen, mit der ersten Selbständigkeit neu beginnen, wenn auch noch im Bereich der Sorgepflichtigen.

Kindergarten, Schule eventuell Wohnungswechsel der Eltern, ein Neubeginn gefolgt vom nächsten. Wenn auch die meisten Menschen ihren Geburtsort während Kindheit und Jugend nicht verlassen, so gibt es doch gerade in unserer turbulenten Zeit viele, die umziehen, auswandern, ja sogar fliehen müssen unter dem Druck von Not, Hunger, Verfolgung usw. Oft ist das eine große Herausforderung, egal in welchem Alter, diesen Neubeginn beim Schopfe zu packen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und in die Zukunft zu schauen. Interessant ist es zu beobachten, wie bei einem solchen Neubeginn der Einzelne damit umgeht, besonders wenn es in ein fremdes Land geht, dessen Sprache und Gebräuche zu lernen sind, um eine Integration in die jeweilige Gesellschaft zu schaffen. Dabei erinnere ich mich an meinen Besuch in Florida bei einer Jugendfreundin, die mit ihrem Mann von Konz bei Trier nach Amerika umgezogen war. Beide hatten die neue Sprache erlernen müssen, allerdings mit starkem Heimatakzent; sie konnten besser verstehen, absprechen jedoch ihr notdürftig angelerntes Amerikanisch war kaum verständlich. Sie hatten ihre handwerklichen Berufe ausüben können, ein Haus gebaut und zwei Kinder aufgezogen. Aber dann zerbrach die Ehe, und ich war sehr traurig während meines Aufenthaltes bei den beiden mit nur noch dem jüngsten Kind, einem behinderten Sohn. Migrantenschicksale können sehr verschieden sein: die einen hören konzentriert zu, wenn die Einheimischen sprechen und lernen in kurzer Zeit die neue Sprache, auch ohne Lexikon und Grammatikbücher, andere, meistens sind es die Frauen, wie hier bei uns zu beobachten ist, die sich nicht trauen, die neue Sprache wirklich anzunehmen und ihre Beherrschung zu erlernen, da ist ja noch der Mann, der das kann, das reicht ihnen. Sie ziehen sich in ihre Familie zurück, werden manchmal misstrauisch gegen die Einheimischen, sie scheuen den Neubeginn.

Zu den vielleicht glücklichsten Erdenbürgern gehören diejenigen, denen es beschieden ist, an ein und demselben Standort auszuharren und in einer familiären Geborgenheit all den Strapazen, Einbußen, Umstellungen oder auch den Verlockungen eines Neubeginns zu entgehen. Aber da gibt es noch das Gegenteil: die Ruhelosen, die es nicht lange an einem Ort aushalten können und immer wieder einen Neubeginn wagen. Es gab die Zeit der Wandergesellen, deren Pflicht es war, bei mehreren Meistern und an verschiedenen Orten ihr Handwerk zu erlernen und zu erproben. Denken wir auch an die großen Völkerwanderungen in alter und neuer Zeit. Wieviel Mut müssen Flüchtlinge aufbringen, die geliebte Heimat zu verlassen und ein ungewisses Fortziehen zu einem neuen Ort durchzustehen? Das habe ich selbst am Anfang und gegen Ende des Zweiten Weltkrieges am eigenen Leib erfahren zweimal Evakuierung und kann mich leicht in die Lage und Gemütsverfassung von Flüchtlingen hineinversetzen.

Aber es blieb nicht bei diesen frühen schwierigen Reisen zu einem noch unbestimmten neuen Ort. Später habe ich gern größere Reisen freiwillig unternommen, wohl wissend, dass ich an meinen Wohnort zurückkehren konnte, habe zwar viel Neues erfahren, ohne neu beginnen zu müssen. Umzüge habe ich viele hinter mir. Aber selbst im Alter kocht manchmal noch mein Zigeunerblut und treibt mir die Sehnsucht nach einem Neubeginn irgendwo in dieser oder einer anderen Welt ins Herz. Gerade jetzt – nach zwei Jahren Unglück, Diebstahl an meinem Hausrat, Umzug, Justizopfer, wieder Wohnungseinbruch und erneut Handtaschenraub – flüchte ich mich hin und wieder in einen Neubeginntraum.

(c) Anneliese Useldinger / Bonn

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Mimina und Pepe

Mimina und Pepe

Anneliese Useldinger

Es war einmal eine Elfenkönigin, sie hieß Esmira. In einer mondhellen Nacht gebar sie ein Mädchen, dem sie den Namen Mimina gab. Als es heranwuchs, verströmte es einen außergewöhnlichen Liebreiz, so dass alle am Elfenhof es bewunderten ob seiner großen Schönheit und Anmut. Mimina war der Stolz der Königin, und sie stellte sich vor, wie diese Mimina eines Tages nach ihr in den Elfenthron besteigen sollte. Da geschah das Unerhörte: An einem schönen Sonntag, als Mimina gerade mit ihren Gespielinnen am Ufer des klaren Sees weilte, stieß ein mächtiger schwarzer Raubvogel blitzschnell herab und packte ausgerechnet die Elfenprinzessin mit seinen bekrallten Fängen und riß sie mit sich in die Höhe. All ihr Flehen und Schreien half nichts, sie musste sich in dieses ihr erstes großes Leid schicken. Ihre Tränen flossen unaufhörlich, und sie war halb benommen durch Schmerz und Entsetzen. Nach einigen Stunden dieses erzwungenen peinigenden Fluges durch raue Luft ging es plötzlich jäh abwärts. Die Vogelkrallen lösten sich von ihrem geschundenen Körper, und sie viel unsanft auf eine Schütte Stroh, wo sie ohnmächtig liegen blieb. Nach einer Weile wurde sie hart an den Schultern gegriffen und auf den Rücken gedreht. Dabei kam sie wieder zu Bewusstsein. Die Hexe Menorma sprach sie an: “Da bist du ja, endlich habe ich dich! Schöne Prinzessin! Aus ist es mit der Elfenkönigin. Nie wirst du einen Thron besteigen. Das Reich der Elfen geht zu Ende, weil ich es so will!”

Die arme Mimina konnte die boshaften Worte kaum verstehen; ihr ganzer Leib schmerzte, und der Schrecken lähmte sie noch immer. Doch endlich fragte sie zaghaft: “Wo bin ich, und wer bist du?” “Das wirst du noch früh genug erfahren”, antwortete die Hexe und fuhr fort: “Dort ist eine Pfütze, worin du dich waschen kannst. Bring deine Kleider in Ordnung!”

Darauf traf Mimina einen Rippenstoß, so dass sie vom Stroh auf den harten Boden rollte. Ein Fußtritt folgte, und bevor der nächste kam, erhob sie sich mühsam und sah jetzt erst die groteske Gestalt, die zu ihr gesprochen hatte. Neuer Schrecken erfasste sie. Wieder sprach Nenorma: “Ja, schau nur und fürchte dich vor mir, wie es sich gehört. Deine Mutter hat mich vor 9 Jahren von ihrem Hofe verjagt, weil ich einen ihrer magischen Ringe geklaut hatte. Eine Zofe verriet es ihr. Und dann hat sie mich, die ich schön war wie der Mond und die Sterne, in diese hässliche Gestalt verzaubert und davon gejagt. Zuvor hetzte sie einen Gnom auf mich, der mir den Ring wegnahm, bevor ich seinen Zauber ausprobieren konnte. Dann wurde ich in die Nacht gestoßen und musste mir eine Bleibe suchen. Gegen Morgen fand ich diese Höhle, wo ich mein elendes Leben friste. Aber ich hatte Rache geschworen und werde sie bis zur Neige auskosten. Meine beste Idee war und ist es, dieser Königin ihr einziges schönes Kind zu rauben und… Mimina schrie auf: “Oh weh!” Ulerio, der Raubvogel gesellte sich krächzend zu den beiden und fauchte die Hexe an: “Wo ist mein Lohn für diesen großen Dienst, den ich dir erwiesen habe!” Mimina fragte weinend dazwischen: “Hast du mich vom Elfenhof geraubt und hierher gebracht?” Hämisch antwortete der Vogel: “O ja, mein schönes Kind!” Nun wurde Menorma ungeduldig, und sie fuhr das schwarze Ungetüm an: “Laß das! Jetzt gehört sie mir. Ich habe dir doch gesagt, dass du noch etwas warten musst, bis ich den Zauber herbeigeschafft habe, der dir helfen wird, dich wieder zurück zu verwandeln.” Da brauste Ulerio auf: “Genug! Das hast du mir schon oft gesagt. Meine Geduld ist zu Ende. Ich gebe dir noch ein letztes Mal drei Tage Zeit, und wenn du ihn danach nicht gefunden hast, dann werde ich auch dich entführen an einen Ort, an dem Du verrecken sollst!” Nach dieser Drohung änderte die Hexe ihren Tonfall und sagte mit geheuchelter Freundlichkeit: “Mein lieber Ulerio, sprich doch nicht so mit mir. Schließlich habe ich von den Ketten befreit und dich aufgepäppelt, als du fast verhungert warst.” Darauf Ulerio: “Und dann habe ich dir gedient und alle deine Befehle ausgeführt. Als du mir diesen letzten schwersten Auftrag gabst, hast du mir den Zauber versprochen, aber jetzt hälst du mich hin – wie lange noch?” Wieder in sanften Ton antwortete die Hexe: “Ja, glaub mir doch: Ich werde den Zauber finden, ehe die drei Tage verstrichen sind, du wirst es sehen!” Damit gab sich Ulerio zufrieden. Laut krächzend flog er davon und ließ sich verdrossen auf einem Stein nieder. Menorma nahm ihre täglichen Pflichten wieder auf, warf einen Eimer auf das kleine Mädchen zu und herrschte es an: “Hol Wasser vom Bach da unten, beeil dich!” Mimina, die ihr ganzes junges Leben nur bedient worden war, wusste nicht, was sie tun sollte. Ihr Herz jagte vor Angst. Da schmiss Menorma den Eimer den Hang hinunter und stieß das kleine Mädchen nach. Mimina fiel zu Boden und rollte den Eimer hinterher. Beinahe wäre sie im Bach gelandet, hätte nicht ein Strauch sie aufgehalten. Die Hexe schrie von oben ihre Befehle, die Mimina nicht verstehen konnte. Da flüsterte ihr ein mitleidiger Frosch zu: “Fülle den Eimer mit Wasser und trage ihn hinauf. Beeile dich, die Hexe kennt keine Gnade.” Mimina folgte dem guten Rat des Frosches und schleppte den vollen Eimer hinauf. Kaum oben angekommen, sprach Menorma wieder in ihrem barschen Ton: “Du wirst es lernen müssen, mir als Magd zu dienen, anstatt am Elfenhof zu spielen. Ja, ist das eine Augenweide für meine Schmach durch meine Mutter! Wie süß ist doch die Rache!” Mimina fühlte sich schwach und elend, sie musste sich von Kräutern, Pilzen, Beeren, Wurzeln und Wasser vom Bach ernähren, wobei ihr die klugen Naturgeister dieser Gegend behilflich waren. Am nächsten Morgen machte sich Minorma bereit, weg zu gehen. Zuvor hatte sie Mimina an einen Baum gefesselt und einen Becher Wasser neben sie hingestellt, den sie gerade noch ergreifen und zum Munde führen konnte. Dann schritt sie rüstig aus und überließ das arme Kind seiner Angst und Einsamkeit. Als die Hexe außer Sichtweise war, hörte Minina ein leises Geräusch neben sich und erschrak. Ein Zwerg nahte sich ihr und flüsterte: “Hab keine Angst, kleine Prinzessin, du bist nicht allein, wir alle hier wollen dir helfen. Verhalte dich ruhig und weine nicht mehr. Ulerio ist noch nicht in der Nähe. Erst wenn der sich für ein paar Stunden von hier entfernt, kann ich dich befreien. Warte und vertraue mir!” Mimina schöpfte neuen Mut und sagte: “Ach, du guter Zwerg, ich danke dir wie all den andern, die mir in meinem Elend bis jetzt geholfen haben. Kannst du vielleicht jemanden finden, der meiner lieben Mutter eine Botschaft sendet?” Eifrig antwortete der Zwerg: “O ja, die Elster ist schon unterwegs. Für ein glänzendes Schmuckstück tut die doch alles, und davon wird am Hofe deiner lieben Mutter doch wohl genug vorhanden sein. Ich bin gespannt, ob und wann sie zurückkommt und welche Kunde sie bringt.” Mimina lächelte zum ersten Mal wieder nach all den bösen Erfahrungen, die sie gemacht hatte und sagte: “Danke, dass ihr daran gedacht habt. Ich habe so große Sehnsucht nach Mama und meinen Gespielinnen am Hof.” Der Zwerg beschwichtigte die verängstigte Prinzessin und sagte: “Sei klug und warte still auf deine Rückkehr. Sicher wird die Elfenkönigin alles in ihrer Macht stehende tun, um dich zu befreien.” Da meldete sich der Dompfaff und schimpfte kräftig drauf los: “Wann wird dieses Ungetüm von Ulerio endlich abhauen, ich guck mir noch die Augen aus, bin müde und hungrig, kann aber nicht weg, weil der immer noch da hockt und vor sich hinkrächzt. Die Hexe kommt doch frühestens morgen abend zurück, wenn überhaupt, und der Kerl weicht nicht von seinem Stein. Ach, dass ausgerechnet ich hier den Beobachter spielen muss! Ach was soll`s! Ich muss mal was trinken, der Ulerio sitzt ja doch länger da herum. Ich bin ja gleich wieder zurück.” Asch flog der Dompfaff zum nahen Bach, und als er wieder auf seinem Posten Platz nahm, staunte er nicht schlecht: “O, der Schwarze ist ja weg! Jetzt aber schnell zu den Zwergen.” Laut rief er durch den Wald: “Hallo, hallo, Ulerio ist weg, befreit die Prinzessin!” Gerade hatte der 1. Zwerg sein Messer geschärft, um die harten Fesseln Miminas zu durchtrennen, da schwebte ein dunkler Schatten heran, und der Zwerg sprang behände mit seinem Messer in eine Grube, um nicht entdeckt zu werden. Mimina ängstigte sich sehr und weinte leise vor sich hin. Ulerio sprach die Elfe an und heuchelte Freundlichkeit: “Na, kleine Elfe, wie geht es dir so nahe am Baum?” Aber Mimina antwortete nicht und hörte nicht auf die boshaften Lästerungen ihres grausamen Entführers. Nach einer Weile gab dieser auf und flog geräuschvoll davon. Sehr zum Ärger des lauernden Dompfaffs besetzte er wieder den verwitterten Stein. Die Naturgeister brachten der gefesselten Prinzessin köstliche Beeren und Kräuter, um ihren Hunger zu stillen und frisches Wasser vom Bach. So verging der erste Tag. Am Abend, als es schon dunkel war, schlich einer der Zwerge sich an den Baum heran, löste die Fesseln der Elfenprinzessin und führte sie zu einer moosbedeckten Stelle im Wald, wo er ganz vorsichtig ein paar Fichtenzweige über sie breitete. Kurz vor Sonnenaufgang pirschte ein anderer Zwerg an Miminas Lager und weckte sie sanft: “Mimina, schöne Prinzessin, wach auf und komm mit mir zu dem Baum vor der Höhle, an den ich dich leider wieder anbinden muss, damit Ulerio nichts bemerkt.” Im Nu hatte er die alten Fesseln wieder zurechtgebunden und sprach zu ihr: “So, nun musst du wieder tapfer sein und dem bösen Vogel keinen Grund geben, dich zu quälen. Wenn die Hexe wieder zurückkommen sollte, dann wird sie dich sicher befreien, damit du ihr als Magd dienen kannst.” Erfrischt und gestärkt durch die Frühgaben der Naturgeister und beruhigt durch die tröstlichen Worte des zweiten Zwerges, fand sie sich in ihr hartes Geschick und dachte an ihre so harmonische Vergangenheit am Elfenhof. Ulerio versuchte es immer wieder, sie zu schmähen und zu ärgern, aber sie blieb stumm und stellte sich schlafend. Die Zwerge warteten immer noch auf eine neue Botschaft des Dompfaffs, aber heute blieb die ganz aus. Der Schwarze entfernte sich nur kurz zur Nahrungsaufnahme, jedoch immer nur in Sichtweite der Höhle und des Baumes, an den Mimina angebunden war. So verging auch der zweite Tag. Als das kleine Mädchen nach einem erquickenden Schlaf auf weichem Moos wieder sanft geweckt und erneut an den Baum gefesselt worden war, rauschte Ulerio heran und begann erneut mit seinen boshaften Frotzeleien. Als er wiederum keine Antwort von der kleinen Prinzessin bekam, flog er zu seinem Stein und schimpfte vor sich hin. “Diese Menorma wollte doch schon vor Ablauf des dritten Tages zurück sein – Du wirst schon sehen! – Hahaha! Was werde ich sehen, ja was? Ach, da fällt mir etwas ein: “Da unten im Tal haust eine kluge Schlange, die werde ich aufsuchen und fragen.” Nach einer knappen Viertelstunde Flug schrie er laut: “Sofania, Sofania, höre mich, ich brauche deinen Rat! Hab keine Angst, ich werde dich nicht anrühren, aber komm und sprich mit mir!” Bedächtig richtete sich Sofania auf und sagte: “Wer ruft nach mir? Es ist lange her, dass einer meinen Rat suchte, und jetzt ausgerechnet du, Ulerio, was treibt dich denn zu mir her?” Mit gedämpfter Stimme erwiderte der mächtige Vogel: “Höre, Sofania, die alte Hexe Menorma ist schon am 3. Tag fort und hier, um ihr Versprechen einzulösen als Lohn für meinen großen Dienst, den ich ihr erwiesen habe. Kannst du mir sagen, ob und wann sie wiederkommt und ob sie den Zauber wirklich findet, den sie mir versprochen hat?” Einige Minuten lang war es ganz still, dann erhob Sofania ihre Stimme und gab Ulerio barsch den schlimmen Bescheid: “Sie ist von Grunmd auf böse, deine Diebin, die vom Elfenhof vertrieben wurde und nun durch dich, du Tölpel, ihre Rache auskostet. Und du glaubst ihr? Wie konntest du nur so dumm sein? Den Zauber kann sie nicht finden, weil sie einmal einen magischen Ring gestohlen hat, der ihr nicht zustand. Sie kommt nicht mehr hierher zurück und sucht weiter in ihrer Verzweifelung. Wärest du doch früher zu mir gekommen, dann hätte ich dir eine List verraten, wie du wieder zu deiner ursprünglichen Gestalt hättest zurückfinden können. Aber jetzt ist es zu spät. Der weiße Rabe, der dort drüben in dem alten Haus seinem verstorbenen Herrn, einem Magier, nachtrauerte, ist nun selber vor drei Tagen gestorben, vielleicht hätte der dir helfen können. Schade, schade, Ulerio! Ich kann dir leider nicht helfen. Wenn Menorma nicht zurückkommt, und das wird sie nicht, dann flieg weg und suche sie. Etwas anderes kann ich dir nicht raten.” Diese Antwort gefiel Ulerio ganz und gar nicht, und so schimpfte er: “Du bist genau so falsch wie die Hexe, ihr seid alle nur Satansbrut und ohne Mitgefühl für andere!” Sofania ließ das nicht auf sich sitzen und gab zurück: “Und du gehörst vor alem anderen dazu. Schämen solltest du dich, ein Elfenkind so grausam zu rauben, nur weil du den Lügen der Hexe geglaubt hast, Schande über dich!” Der 1. Zwerg hatte bereits die Fesseln am Baum vor der Höhle durchtrennt, und Mimina atmete erleichtert auf. Aber dann packte sie das Entsetzen und sie rief voller Angst: “Oh weh, oh weh, Ulerio naht, was soll ich tun? Lieber Zwerg, hilf mir, vor ihm zu fliehen!” Der Zwerg antwortete: “Komm schnell in die Höhle, in die kann Ulerio nicht eindringen.” Ulerio brüllte wütend los: O du niederträchtiges Zwergenvolk, ihr habt euch also der kleinen Prinzessin erbarmt, aber das soll euch noch teuer zu stehen kommen. Wartet nur, bis die Hexe wieder zurück ist. Was mir die falsche Schlange da unten erzählt hat, davon glaube ich kein Wort. Also, heute abend, wenn Menorma kommt, dann sollst du, kleine Elfe, erleben, wie böse die werden kann. Und ihr verschlagenen Zwerge, auch ihr werdet ihre Rache zu spüren bekommen!” Der Abend kam. Mimina schlich mit dem Zwerg aus der Höhle der Hexe, nachdem Ulerio auf seinem Stein eingeschlafen war. Da kamen die Naturgeister und erquickten Mimina mit den Früchten des Waldes und mit dem klaren Wasser aus der Quelle des Baches. Mimina wäre am liebsten gleich geflohen, aber wohin? Leise fragte sie den Zwerg: “Sag mir, lieber Zwerg, ist die Elster noch nicht zurück?” Und dieser antwortete: “Nein, liebes Elfenkind, wir warten mit großer Spannung auf ihre Rückkehr. Aber wir müssen die Nacht abwarten, vielleicht bringt sie uns gute Nachricht am frühen Morgen.” Mimina gab sich damit zufrieden und sagte: “Verehrte Königin, nun weißt du, wo du suchen musst, um dein schönes Kind zu retten. Verzeih, dass ich so lange gebraucht habe, dich hier zu finden. Ich musste oft nach dem Elfenreich fragen, und ich hoffe, dass es noch nicht zu spät ist. Vielleicht braucht die Hexe auch länger, bis sie mit dem Zauber zurück ist.” Darauf antwortete die Königin erregt: “Den Zauber, den wird Menorma nie finden, das hat sie verwirkt. Also, liebe Elster, zeige meinem Rettungstrupp den Weg zur Höhle der Menorma und zu meinem Kind. Ich gebe dir von den kostbaren Perlen und dem Geschmeide, das ich besitze, soviel du tragen kannst, und du sollst noch mehr davon haben, wenn du mir mein Kind zurückbringst.” Die Elster lächzste insgeheim nach den glänzenden Juwelen und sagte ergeben: “Gern will ich mein Bestes tun, holde Königin, um dir dein geliebtes Kind wiederzubringen. Daher schlage ich vor, gleich morgen früh aufzubrechen und in Windeseile das sonnige Land im Süden anzusteuern, das die Menschen Tessin nennen.” Das gefiel der Elfenkönigin und sie antwortete begeistert: “Ja, liebe Elster, ich werde meine Kundschafter mit Waffen, magischen Kräften und Proviant ausstatten und bei Tagesanbruch mit dir auf die Reise schicken.” So geschah es. Die Elster, beladen mit funkelnden Edelsteinen, Perlen und schönen Armreifen, flog voraus und zeigte dem kleinen Trupp von wehrhaften Elfen, Gnomen und Sylphen den weiten Weg zur entführten Prinzessin Mimina. Die Reise war beschwerlich und ermüden Flüsse, ja sogar ein Meer und hohe Berge mussten überwunden werden. Am Abend gebot die Elster, einen Schlafplatz aufzusuchen. Dagegen protestierten die Abgesandten der Elfenkönigin, die keine Zeit verlieren wollten. Aber sie mussten sich beugen, da sie von der Wegweisung der Elster abhängig waren. Am nächsten Morgen ging es nach einer kurzen Stärkung wieder weiter. Die Elster hatte ihre glitzernden Schätze wieder eingesammelt und sich damit behängt, was natürlich ihren Flug behinderte und verlangsamte. Das gefiel dem von ihr geleiteten Suchtrupp gar nicht, jedoch wurde es zerknirscht hingenommen. Am zweiten Abend, die Sonne war schon untergegangen, erreichten die Retter endlich ihr Ziel. Die Zwerge jubelten klammheimlich, gaben der Elster Zeichen zur Vorsicht, und so mussten sich Elster und Suchtrupp zunächst im Unterholz versteckt halten. Einer der Zwerge flüsterte ihnen zu: “Da seid ihr ja endlich! Oh, wärest du, liebe Elster, doch einen Tag früher gekommen mit deinen Rettern! Die Hexe ist noch nicht zurück, aber Ulerio hat in seiner Enttäuschung und Wut die arme Mimina wieder entführt, und wir wissen nicht, wohin. Vermutlich sucht er Memorma, die ihm den Zauber versprochen hat, und will sie mit der Prinzessin in seiner Gewalt erpressen. Oh, dieser Bösewicht! Hätten wir sie doch nur fortlaufen lassen, als sie das wollte! Jetzt sind alle unsere Mühen vergebens!” Da brauste die Elster auf und machte ihrer Enttäuschung Luft: “Oh, ihr Dummköpfe! Konntet ihr nicht besser auf die Prinzessin aufpassen und sie verstecken vor diesem schrecklichen Ulerio! Und was sollen wir jetzt machen?”

Im Reich der Gnomen, tief in einem für Menschen unzugänglichen Wald, wurde ein großes Fest gefeiert. Der älteste Sohn des Gnomenkönigs mit Namen Pepe wurde 12 Jahre alt. Sein Vater Audon übertrug ihm die Würde und Last des Thronfolgers nach seinem Tod. Das erfüllte den jungen Prinzen mit Glück und Stolz. Er genoss das große Fest zu seiner Ehre, und das ganze Gnomenvolk freute sich mit ihm. Noch ahnte niemand, welches Unglück über den Thronfolger hereinbrechen würde. Drei Tage nach diesem Fest ging er allein gegen den Rat seiner Lehrer und Betreuer auf Erkundungsgang. Er wollte sein zukünftiges Reich kennen lernen bis zu seinen Grenzen. Als er kurz vor der Dickichtwand , die diesen Wald säumte, ankam, stürzte er in eine Falle, die ihn zu Boden warf und ihn fesselte. Er schrie laut auf vor Schmerz. Da hörte er eine raue dunkle Männerstimme, und die kam von Magier Tario: “Das ist die Stunde meiner Rache! Jetzt bist du mein, Pepe! Dein Vater hat vor Jahren meine schönste Tochter entführt, das ist deine Mutter. Lange habe ich darauf gewartet, dass sie zu mir zurück käme, vergebens! Nun hole ich mir ihren äötesten Sohn, gerade zum Thronfolger gekürt. Damit ist Schluss. Du sollst mein Sklave sein und ewig. Die gröbsten Schmutzarbeiten werde ich dir auftragen, in meinen Werkstätten sollst du den Zwergen in meiner Gewalt zur Hand gehen und mit ihnen das Gold und Silber aus den Bergschächten herausholen. Ich werde deine Haut schwärzen, so dass du aussiehst wie ein missratener Mohr. Und falls du einen Fluchtversuch wagen solltest, wird dich, wenn du das Gnomenreich jemals wieder erreichen würdest, niemand erkennen und keiner dir glauben, dass du wirklich Pepe, der Kronprinz bist.” Der gefesselte junge Prinz schrie auf: “Oh weh mir! Was kann ich denn dafür, dass meine liebe Mutter von meinem Vater aus deinem Haus entführt wurde? Laß mich frei, ich flehe dich an, denn ich habe dir doch nichts böses getan. Laß mich nicht für die Vergehen meiner Eltern büßen, hab Erbarmen mit einem Jungen von erst 12 Jahren!” Aber Tario blieb hart und herrschte in an: “Halt dein freches Maul und ergib dich in dein Schicksal, dessen Vollstrecker nur ich bin. Hatte dein Vater Erbarmen mit mir, als er mir mein liebtes Kind raubte, he? Mein Plan liegt fest, und ich werde kein Jota davon abweichen. Also spare deinen Atem für den schweren Dienst, der dir bevorsteht.” Ein Diener näherte sich unterwürfig und sprach zu Tario: “Erhabener Meister! Ich folge deinem Befehl und löse den Jungen aus der Falle, indem ich ihm neue Fesseln anlege, so kann er mir nicht entkommen.” Tario nickte zufrieden und erteilte weitere Befehle. “R_echt so! Bring ihn ins Verließ. Heute Abend stell ihm eine dünne Suppe mit einer Scheibe hartem Brot hin. Du weißt schon, denn das machst du ja nicht zum ersten Mal!” Pepe schrie auf`s neue, weinte und war sehr unglücklich. In der Gnomenburg fragte König Audon einen Lehrer: “Wo steckt denn mein Sohn Pepe? Wer weiß, wohin er gegangen ist?” Der Lehrer antwortete etwas zögerlich: “Erhabener König! Vor zwei Tagen wollte er sein zukünftiges Reich erkunden. Ich empfahl ihm, zwei Begleiter mitzunehmen, aber er lehnte eigensinnig ab und verschwand vom Hof. Audon brauste auf: “Wie konntest du das zulassen? Warum hast du mich nicht benachrichtigt? Du hättest wissen müssen, dass er in seinem kindlichen Alter noch zu unwissend und zu unerfahren ist, um sich allein in das Waldreich zu trauen. Geh und sende Boten, die besten und erprobtesten Gnomen nach ihrem verschollenen Kronprinzen, ohne Erfolg. Aber einer fand die umgestürzte Falle und ein paar Fetzen von Pepes Gewand. Da wusste der König, dass er seinen geliebten Sohn nie wieder zu sehen bekommen würde. Er hielt diese schlimme Botschaft geheim, die Königin sollte nichts davon erfahren. Er aber konnte sich denken, wer sein Kind in der Gewalt hatte und auch weshalb. Aber seine Reue kam zu spät. Er schlief kaum mehr, zermarterte sein Hirn nach einer Lösung des Problems, gab jedoch schon bald auf in der Gewissheit, dass er den Plänen des rachsüchtigen Tario nicht beikommen könne. Seine Königin Rosenmund hatte inzwischen ebenfalls ihren ältesten Sohn vermisst und so lange am Hofe nach ihm gefragt, bis schließlich ein Diener ihr die Wahrheit verriet. Der Gnomenkönig scholt ihn und wies ihn an, nicht mehr auf die Fragen der Königin zu antworten. Rosenmund ließ jedoch nicht locker, auch andere nach ihrem Sohn zu fragen. Aber sie konnte keine weiteren Nachrichten darüber erhalten und weinte bitterlich. In ihrer Verzweifelung wandte sie sich an den König: “Audon, mein lieber Mann, sag mir doch endlich, wo unser geliebter Sohn Pepe geblieben ist. Ich verlange Aufklärung, bitte, verheimliche mir nichts. Ich muss es wissen, denn ich bin doch seine Mutter, bitte…” Audon versuchte sie zu beruhigen: “Ich kann deinen großen Schmerz verstehen, bin ich doch als Vater ebenfalls in tiefstes Leid gestürzt über das Verschwinden meines Thronfolgers. Ein Kundschafter hat in der Nähe unserer Reichsgrenze eine zerbrochene Falle und Kleiderfetzen von Pepe gefunden. Ich kann nur vermuten, dass Tario der Bösewicht ist, dein Vater, der es noch nicht verwunden hat, dass ich dich damals entführt habe. Aber du bist doch freiwillig mit mir fortgegangen, weil du die Heiratspläne deines Vaters nicht akzeptieren wolltest. War es nicht so, Rosenmund?” Die Königin erwiderte: “Ja, du hast recht. Mein Vater ist und bleibt hart, auch gegen seine eigenen Kinder, seinen Enkel wird er nicht besser behandeln. Oh, weh mir! Was kann ich nur tun, um Pepe wieder zurück zu holen? Sag mir, Audon, was wir noch tun können, strenge deinen Kopf an und suche eine Lösung, bitte!” Nach einigem Zögern sagte Audon: “Das hab ich Tag und Nacht getan, aber mir fällt nichts ein. Ich weiß nur zu gut, wie unerbittlich der alte Zauberer ist. Ich darf nicht daran denken, wie er seine Rache auskosten wird.” Rosenmund geriet immer mehr in Erregung und sagte: “Frag deine Astrologen und Wahrsager, es muss doch eine Möglichkeit geben! Ah, da fällt mir gerade ein, dass mein Vater auch Zwerge versklavt hat, die für ihn schuften müssen. Könntest du vielleicht einen Botschafter zu den Zwergen im Nachbarreich schicken? Möglicherweise wissen die einen Rat, schließlich sind auch ihre Brüder betroffen. Wer weiß, ob sie denen schon zu Hilfe kommen konnten oder auch nicht?” Da plötzlich hellte sich Audons Stimmung auf, als er sagte: “Du hast ja recht, ich muss nach Verbündeten suchen, allein kann ich die Lösung zur Rückkehr unseres Sohnes nicht finden.” Auf seinen Wink erschien ein Diener, und der König der Gnomen gab ihm den Befehl: “Höre Valento! Suche die Kundschafter, die schon seit Wochen nach dem Prinzen fahnden, besonders den, der die Falle und Kleiderfetzen von Pepe gefunden hat, und sende sie zum König der Zwerge Baradin mit einem Brief von mir, den ich sofort schreiben lasse. Geh zum Schatzmeister und erbitte einige der schönsten Karaffen, gefüllt mit köstlichen Essenzen und Beerenextrakten als Geschenk und Zeichen meiner Hochachtung.” Valento erwiderte: “Sehr wohl, mein König, ich eile und werde bald zurück sein mit den Geschenken.” Audon rief ihm noch nach: “Sag dem Schatzmeister, dass es sehr wichtig und sehr dringend ist.” König Audon diktierte seinem Sekretär einen höflich und bittend gehaltenen Brief an den König der Zwerge, verschloss und versiegelte ihn und schickte den schon bald wiederkehrenden Dieser mit einem kleinen Trupp seiner Höflinge zum Nachbarreich der Zwerge. Am Abend dieses Tages, den Audon und Rosenmund voll banger Erwartung nd auch neuer Hoffnung verbracht hatten, kehrte Valento zurück und übergab seinem König ein Antwortschreiben des Zwergenkönigs. Audom nahm dieses aufgeregt entgegen, öffnete es und las: “Mein sehr verehrter König der Gnomen, lieber Audon! Deine Nachricht vom Verschwinden deines geliebten Sohnes und Thronfolgers Pepe hat mich sehr betrübt und meinen Kummer um den Verlust von immer noch fünf Zwergen noch verstärkt. Ja, wir konnten mit vielerlei List und anstrengenden Rettungsaktionen inzwischen zwei unserer Brüder aus den Verließen des Zauberers zurückholen und sind weiter bemüht, auch die noch dort schmachtenden fünf wieder zu befreien. Ein kluger Luchs, der unser Kundschafter ist und bisher dem Einfluss des bösen Tario entgehen konnte, hat mir gestern seine Beobachtungen bei der Ankunft deines Sohnes in Tarios Reich überbracht, die ich zunächst für unmöglich gehalten hatte. Doch nach deinem Schreiben muss ich dem Luchs glauben. Hiermit spreche ich dir und deiner Königin mein tiefes Migefühl aus, gerade den Thronfolger in der Gewalt des Tario zu wissen, wo er sicher seines jungen Lebens nicht mehr froh werden kann. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um auch ihn, Pepe, beim nächsten Rettungsversuch mit meinen Zwergen herauszuholen und zunächst an meinem Hofe zu verstecken. Es dürfte dann ein Leichtes sein, von hier aus den Jungen von deinen Leuten abholen zu lassen. Aber fasse dich in Geduld, warte auf meine nächste Botschaft. Ich kann dir jedoch nicht fest versprechen, denn es ist sehr schwer, in das Reich des Zauberers einzudringen und auch wieder heil herauszukommen. Meine Anteilnahme und Hilfsbereitschaft sind dir sicher, aber frage nicht nach der Zeit und lass mir freie Hand. In brüderlicher Verbundenheit grüßt dich und deine Königin dein besorgter und mitfühlender Baradin!” Rosenmund brach in Freudentränen aus und sagte: “O wie gut ist es, dass Baradin unser Elend versteht und uns auch helfen will. Dank ihm und auch dir, lieber Audon, dass du diesen Gedanken ausführen konntest!” Weit ab vom Gnomenhof war gerade der schwarze Ulerio mit Mimina in den Fängen unsanft gelandet und knirschte: “So, das war wieder ein Stück harter Arbeit, dich so weit durch die Luft zu schleppen, aber das war das letzte Mal. Jetzt muss ich mal sehen, was ich mit dieser Geisel erreichen kann.” Mimina schluchzte und flehte ihn an: “Oh weh! Wo hast du mich denn jetzt hingeflogen? Ach, lass mich doch frei, oder bring mich zum Elfenhof zurück; meine königliche Mutter wird dich hoch belohnen, ja vielleicht kann sie dich wieder in deine ursprüngliche Gestalt zurückverwandeln. Sie tut das bestimmt, wenn ich sie darum bitte.” Ulerio erwiderte barsch: “Quatsch nicht so kindisch daher. Deine Mutter, die würde mich umbringen lassen, nachdem ich dich bei ihr abgeliefert hätte. Nein, du bleibst bei mir. Zuerst muss ich das Biest Menorma finden und mit dir in meiner Gewalt von ihr den Zauber erpressen.” Mimina meinte dazu: “Weißt du denn überhaupt, wohin sie gegangen ist? Und wird sie überhaupt jemals den Zauber finden und bei wem?” Darauf fuhr Ulerio sie an: “Frag nicht so dummes Zeug! Was weißt du verwöhntes Plag denn schon vom Leben und seinen Tücken?” Da fuhr plötzlich ein Wolf dazwischen: “Ah, da bist du ja, du Räuber und Dummkopf! Na, jetzt erzähl ich dir erst einmal, wo die Hexe ist, darauf bist du doch gespannt, nicht wahr! Die Elfenkönigin ist sehr beliebt unter den Waldbewohnern, und sie besitzt große Zauberkraft. Wir alle lieben und verehren sie und helfen ihr nach besten Kräften. Gestern berichtete mir eine hübsche Sylphe die traurige Geschichte von dem bösen Hexenstreich und deiner Untat.” Ulerio schrie erzürnt: Wo ist Menorma, sag es mir, schnell! Ich darf keine Zeit verlieren. Verkneif dir dein dummes Geschwätz!” Der Wolf darauf: “Gemach! Du hast bereits alles verspielt und weder Gnade noch Hilfe zu erwarten. Und dir bleibt nichts anderes übrig, als mir zuzuhören!” Ulerio entgegnete sehr böse: “Scher dich weg, oder ich hack dir die Augen aus!” Der Wolf lachte schallend und sagte: “Du willst mich angreifen? Armer Irrer! Ah, ich höre die Sylphe, wie sie heranschwebt. Nur kurz zu deiner Information: Die Menorma hat es bereits erwischt: An einem verdorrten Baum gefesselt, wie sie es mit der jungen Elfe gemacht hatte, muss sie zusehen, was alles um sie herum geschieht, ohne sich rühren oder sprechen zu können. Und den guten Zwergen und dem anderen Waldvolk ist es verboten, ihr zu helfen.” Ulerio schrie noch wütender: “Du redest wie die Schlange Sofania nur dummes Zeug.” Ganz gelassen antwortete der Wolf: “Jetzt wirst du ganz müde und kannst dich kaum noch auf den Beinen halten, so ist es recht! Der Zauber, den die Sylphe soeben über dich ausgegossen hat, beginnt zu wirken. Auch dir wird dein böses Handwerk gelegt, deine Flügel versteifen sich, mit dem Fliegen ist es aus, und du wirst dich zu einem Stein verformen und keinen Ton mehr von dir geben.” Mit einem dumpfen Stöhnen hauchte Ulerio seinen letzten Atem aus, und der Wald gab ein schreckliches Echo zurück. Darauf erhob Mimina ihre Stimme: “Oh, ist das schrecklich, und dennoch muss ich dir, liebe Sylphe, danken, dass du mich von diesem grausamen Entführer befreit hast. Aber sagt mir, was kann ich nun tun, um wieder zum Elfenhof und zu meiner lieben Mutter zu gelangen?” Der Wolf näherte sich ihr und sagte gutherzig: “Komm, steig auf meinem Rücken, ich will dich tragen, solange meine Kräfte das aushalten. Doch so eine junge Elfe ist ja keine Last. Auf, befreite Mimina, lass uns weiterziehen!” Mimina stimmte freudig zu und stieg auf den Wolf, der sich mit ihr rasch entfernte.

In einem anderen Wald sagte Pepe mit heiserer Stimme: “Lass uns eine Pause machen, ich kann nicht mehr! Die harte Sklavenarbeit bei so magerer Kost, die schweren Fesseln, das alles und dann die anstrengende Flucht haben mir die Kraft meiner Jugend zerstört. Lasst mich hier liegen und sterben!” Sanft redete ihm einer der Zwerge zu: “Ja, lieber Pepe, ruh dich erst einmal aus und schlaf ein bisschen. Wir sind auch sehr müde. Aber du darfst nicht sterben, auf dich wartet der Gnomenthron, deine Eltern und Geschwister.” Da flüsterte Pepe aufgeregt: “Still, ich höre Schritte!” Der andere Zwerg mahnte: “Rasch, auf den Baum, das sind Tarios Verfolger. Pepe, nimm meinen Arm!” Als die drei sich in einer Baumkrone versteckt hatten, atmeten sie erleichtert auf. Das war mal wieder gut gegangen. Pepe hängte sich in eine Astgabel und fiel sofort in tiefen Schlaf. Einer der Zwerge tat das auch, und der andere bezog einen Wachtposten.

Weiter entfernt waren auch Flüchtlinge unterwegs und mussten andere Schwierigkeiten meistern. Der Wolf sagte zu Mimina: “Meine liebe Prinzessin, ich kann es dir nicht ersparen, wir müssen durch diesen Fluss schwimmen. Halte Dich gut fest, auf meinem Rücken bist du sicher, auch wenn du ganz nass wirst.” Darauf antwortete Mimina vertrauensvoll: “Ja, lieber Wolf, ich habe schon schlimmeres durchstehen müssen. Mit dir habe ich keine Angst. Du wirst mich sicher zurückbringen, auch wenn noch mehr Gefahren zu bewältigen sind.” Ganz durchnässt und erschöpft kamen beide am anderen Ufer an und ruhten sich erst einmal aus.

Als der Suchtrupp vom Elefanten unter Führung der mit Klunkern behangenen Fenster vor der Höhle der Menorma landeten, war die Bestürzung groß, nachdem die Zwerge über das Verschwinden der Prinzessin in den Fängen Ulerios berichtet hatten. Der Abend brach herein, und ale ließen sich mit bangen Gefühlen und großer Besorgnis um die Erreichung ihres Zieles zur Ruhe nieder. Eine Elfe hielt Wache und gab sich viel Mühe, die Augen offen zu halten, tapfer kämpfte sie gegen die Müdigkeit nach der langen Reise an. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, da nahte sich ihr eine Sylphe und flüsterte: “Wecke deine Schwestern und Brüder. Mimina lebt! Sie ist mit einem Wolf unterwegs zurück zum Elfenreich.Eine Flussnymphe hat die beiden erkannt und ihnen beim Durchqueren des Wassers gehlfen. Laßt uns schnell aufbrechen, damit wir sie noch erreichen. Der Weg ist weit.” Die Elfe, die Wache gehalten hatte, sagte: “Ja, das müssen wir tun. Aber schnell weg von hier, bevor die Elster aufwacht, die brauchen wir nicht mehr, denn die ist mit ihrer Schmucklast viel zu langsam. Bitte, liebe Zwerge, verratet uns nicht!” Behutsam weckte sie jeden einzelnen ihres Trupps und ließ die Elster schlafen. Im Nu waren alle reisefertig, und nun vertrauten sie sich der Führung der freundlichen Sylphe an.

In dem anderen Wald, der Zufluchtsort des Gnomenprinzen und seiner beiden Zwergenbegleiter geworden war, schüttelte ein Zwerg seinen Schützling Pepe und redete auf ihn ein: “Pepe, lieber Pepe, wach auf! Die Sonne steht schon sehr hoch, wir könnten hier entdeckt werden. Lasst uns weiterziehen und unter den Büschen wandern!” Pepe gähnte und fragte schlaftrunken, wo er sich denn befinde. Der Zwerg antwortet: “Frag nicht so viel, runter vom Baum und hinein in den Schatten des Waldes!” Pepe rappelt sich auf und rutschte am Stamm des Baumes hinab. Unten angekommen, sagte er: “Nun gut, ich verlasse mich weiter ganz auf euch. Ein Glück, dass sein Seil von euren Brüdern auch mich gehalten hat. Aber wo sind denn unsere Retter geblieben?” Einer der Zwerge antwortete: “Die mussten ihr Leben in Sicherheit bringen, nachdem sie das unsere gerettet hatten. Es war nicht leicht, den Wächtern des Tario zu entkommen. Nun müssen wir uns allein durchschlagen, was auch nicht leicht ist.” Der andere Zwerg mahnte zur Vorsicht und sagte: “Bald kommen wir auf eine Lichtung, aufpassen! Vielleicht finden wir einen Kundschafter unter den Waldbewohnern, der uns verrät, ob wir den freien Platz noch bei Tageslicht überqueren können oder nicht.” Pepe schaute nach oben und meinte: “Da oben schläft eine Eule, soll ich sie wecken?” Einer der Zwerge wurde ungehalten und wies ihn zurecht: “So etwas tut man nicht, es gibt genug andere, die wach sind. Wartet hier!” Er lief ein paar Schritte und rief mit verhaltener Stimme: “Hallo, lieber Zaunkönig. Darf ich dich um Hilfe bitten? Wir werden verfolgt von Taios Häschern, siehst du solche herumschleichen?” Der Zaunkönig antwortete: “Ja, ja, haltet euch bedeckt! Da hinten suchen 5 oder 6 von ihnen nach Spuren.” Der Zwerg bedankte sich und fragte: “Bewegen sie sich in unsere Richtung?” Der Zaunkönig spähte erneut nach unten und sagte: “Sie laufen hin und her, bleibt in eurem Versteck, bis ich euch ihr Verschwinden melden kann.” Alsder Zwerg den beiden alles berichtet hatte, bot Pepe seinen Begleitern an, Wache zu halten, damit sie schlafen konnten. Nach einigen Stunden kam der Zaunkönig zu Pepe und verriet ihm, dass die Verfolger in eine andere Richtung, die er ihm angab, abgezogen waren. Sofort weckte Pepe die beiden Zwerge, und sie brachen schleunigst auf, um bald wieder ein dichtes Waldstück zu erreichen. Erfrischt durch den Schlaf und die Ruhepause, wanderten sie die ganze Nacht hindurch, bis sie am frühen Morgen an einen See kamen. Das kühle Wasser zu trinken und sich darin zu waschen, das tat ihnen gut, und sie schöpften neuen Mut, den Verfolgern endgültig zu entkommen. Da tauchte eine schöne Nymphe vor ihnen auf und begann kokett mit ihren langen Haaren zu spielen, sie auszufragen nach Herkunft und Ziel. In der Hoffnung auf deren Hilfe, die sie dringend brauchten, erzählten sie ihr von ihrem bösen Geschick und baten artig und ihren Rat. Aber die Wasserjungfrau war noch zu jung und unerfahren und konnte ihnen nun einen sicheren Weg um diesen großen See beschreiben. So machten sie sich wieder auf und hielten sich vorsichtig und angespannt lauschend an die neue Route. Am Nachmittag unterbrachen sie ihren Marsch, um am Rande eines stillen Steinbruchs nach Kräutern und Beeren zu suchen und nach einer Stärkung bis zum Anbruch der Nacht zu schlafen. Diesmal glaubten sie sich so sicher, dass keiner Wache hielt. Aber dieser Fehler wurde ihnen zum Verhängnis. Aus dem tiefen Schlaf gerissen, schrie Pepe plötzlich auf: “Au, au, mein Fuß, au!” Der Magier Zaurus griff hart nach dem Jungen und sagte: “Ja, dein Fuß hat dich verraten, den hast du zu weit vorgestreckt. Jetzt gehörst du mir! Dem Tario, meinem Bruder, dem bist du zwar entkommen, das kann ich gut verstehen, denn der ist eine Bestie! Er hasst alles, was ihm nicht pariert. Hab keine Angst, mein Junge, ich will an dir nur einen Zauber ausprobieren.” Die beiden Zwerge hatten sich rasch aufgerappelt und aus dem Staub gemacht. Zaurus rief ihnen nach: “Lauft nur, ihr Zwerglein, an euch hab ich kein Interesse, aber der hier, den Tario geschwärzt hat, ja mit dem habe ich etwas Besonderes vor.” Im Herrschaftsbereich des Zaurus befanden sich auch Mimina und der Wolf. Die Elfenprinzessin war sehr erschöpft nach all den Strapazen, und sie war sofort eingeschlafen, als der Wolf mit ihr Halt machte und sie absteigen ließ. Da hörte der Wolf Stimmen aus seinem Rudel, nach dem er so lange gesucht hatte, seit seine Mutter ihn durch den Tod entrissen worden war. Diesen Rufen konnte er nicht widerstehen, rannte über Stock und Stein zu seinen Artgenossen und vergaß die schlafende Elfenprinzessin, die seiner Obhut anvertraut war. Ein Waldkauz entdeckte das kleine Mädchen und machte sich einen Spaß daraus, das dem Zaurus zu verraten. Schon bald war er zur Stelle und griff auch nach ihr. Mimina schrie auf: “Oh, was ist denn los? Lasst mich noch ein wenig schlafen, ich bin so schrecklich müde.” Zaurus antwortete barsch: “Das kannst du auf meiner Burg auf einem besseren Lager. Ich trage dich dorthin, schönes Elfenkind. Hab keine Angst!” Mimina fragte ängstlich: “Wer bist du? Ich fürchte mich vor dir. Was hast du mit mir vor?” Mit ruhiger Stimme erklärte Zaurus: Ich will dir nicht wehtun, Kleines, aber verzaubern will ich dich und dir auch einen Gefährten geben.” Mimina jammerte und flehte ihn an: “Oh nein, lass mich frei, damit ich mit den Wolf – wo ist er? – zu meiner Mutter, der Elfenkönigin, zurückfinden kann.” Darauf erwiderte Zaurus: “Deine Mutter wirst du nie mehr sehen. Aber eine andere aus dem Menschenreich wird dich aufnehmen in deiner veränderten Gestalt und dich liebevoll hegen und pflegen.” Mimina weinte bitterlich und begehrte auf: “Oh weh, ich bin eine junge Elfe und will es bleiben und nicht zu den Menschen gehen.” Darauf sagte Zaurus fest und bestimmt: “Darüber kannst du jetzt nicht mehr bestimmen, sondern nur ich. Und ich meine es gut mit dir, auch wenn ich einen Zauber an dir ausprobiere.” Da flehte Mimina erneut unter Tränen: “Hast du denn kein Herz für ein Kind, das ich noch bin, das nur zu seiner Mutter zurück will und all dem Schlimmen, das es erlebt hat?” Zaurus antwortete belustigt: “Ein Herz? Zauberer können kein weiches Herz haben, sonst geht ihnen die magische Kraft verloren. Aber die Menschen, besonders die Frauen, die haben oft ein gutes und weiches Herz – und zu so einer werde ich dich bringen – später – jetzt musst du erst ausschlafen und wieder zu Kräften kommen. Nachdem die kleine Prinzessin nach langem und tiefem Schlaf aufgewacht war, entdeckte sie ihre Verwandlung und klagte: “Pah, so ein fahles Fell, Schnurrhaare, Pah! Einen langen, geringelten Schwanz! Sehen so Katzen aus? Wenn meine arme Mutter mich so sehen könnte, sicher würde ihr Herz brechen vor Entsetzen darüber, was aus mir, einstmals einer jungen schönen Elfe geworden ist! Aber…” Darauf bekam sie Antwort von Pape: “Miau! Bist du meine neue Gefährtin? Du bist eine sehr zierliche hübsche Katze mit einem ganz hellen Fellkleid! Wie gut, dass ich nicht allein in dieses Elend der Zauberei gestoßen bin! Ich bin, – ich meine ich war -, Pepe, der älteste Prinz und Thronfolger des Gnomenkönigs Audon und der Königin Rosemund! Ach, all mein Stolz ist dahin, und ich muss nicht als schwarzer Kater fortan durchs Leben schlagen. Mimina horchte erstaunt auf und sprach erfreut zu dem neuen Gefährten und Schicksalskameraden: “Sei nicht traurig, lieber Pepe, ich darf mein schlimmes Schicksal mit dir teilen. Auch ich – ja war – Mimina und sollte meiner Mutter auf dem Elfentron folgen. Ich war schön und wurde von allen bewundert und geliebt. Aber ach, das ist vorbei. Jetzt bin ich nur noch eine kleine Katze, und ich fühle mich gar nicht wohl in meiner neuen Gestalt. Hätte mich der Wolf doch nicht so verantwortungslos einfach verlassen, aber, aber – es ist geschehen und vermutlich entgültig.” Pepe stimmte ihr zu und sagte: “Liebe Mimina, jetzt muss ich dich trösten. Wollen wir zusammen unseren neuen schweren Weg gehen, du und ich?” Mimina erwiderte: “O ja, lieber Prinz Pepe, ich will mich gern mit dir zusammentun, sei mein großer Bruder, und ich will deine kleine Schwester sein. Miau!” Da stand plötzlich Zaurus vor ihnen und sagte: “Nun, sieh mal an! Wie schnell habt ihr euch gefunden und beschlosen, als Kater und Katze euren Weg zusammen zu gehen! Darum will ich euch zu einem neuen Lebensraum bringen.”

Am Waldrand einer Stadt im Tessin wunderte sich eine Menschenfrau: “O, was treibt sich denn da auf meiner Wiese herum? Gestern erst habe ich das zierliche Kätzchen von der Straße aufgehoben, wo es leicht verletzt worden war. Ich habe es versorgt und auf ein weiches Kissen gebettet. Und heute taucht ein großer schwarzer Kater auf und wirkt ganz zutraulich. Den nehme ich gern noch dazu. Dann sind die beiden nicht so allein.” Die Katze Mimina erholte sich schon bald und schloss sich dem kräftigen Kater Pepe vertrauensvoll an. Sie durchstreiften den nahen Wald, jagten hin und wieder eine Maus oder einen Jungvogel, wie das die Katzen so tun. Nach und nach gewannen sie ihrem neuen Leben Freude und Zufriedenheit ab und vergaßen mehr und mehr ihre Herkunft, ihre Eltern, ihre königlichen Ziele und alles, was ihnen in ihrem früheren Leben wichtig war. Das Ehepaar, das ihnen ein schönes Zuhause eingerichtet hatte, geizte nicht mit Streicheleinheiten und liebevoller Pflege und gutem Futter. So wurden sie glücklich und genossen ihre innige Freundschaft, eine ungewöhnliche Freundschaft, wie sie nur echte Königskinder zu pflegen wissen.

(c) Anneliese Useldinger / Bonn

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Mimina und Pepe

BLAutor – Arbeitskreis blinder und sehbehinderter Autoren – www.blautor.de

Krisen

Krisen

Anneliese Useldinger

Die Krise – griechisch Krisis, dieses Wort, zur Zeit sehr aktuell, kann verschiedene Bedeutungen haben:

1. In der Wirtschaft bezeichnet es einen Teilabschnitt im Ablauf einer Hochkonjunktur, die plötzlich abbricht und in eine Depression mündet, also in einen Tiefstand übergeht. Das was wir gerade jetzt erleben, ist jedoch nicht neu; so gab es in den letzten Jahrhunderten große Krisen, wie z.B. die holländische Tulpenkrise 1637; 1720 – eine ständige, von Spekulationen getriebene Neuausgabe von Papiergeld, von Aktien und Banknoten löste eine Papiergeldinflation aus, die sich besonders in Frankreich als schwere Krise auswirkte; 1873 Ende der Gründerjahre, schon 1907 gab es eine Wirtschaftskrise, aber die schlimmsten Ausmaße erreichte die Wirtschaftskrise von 1929 bis 1932.

2. Krisis heißt auch Entscheidung, Wendepunkt, besonders bei fieberhaften Krankheiten.

3. Auch ein wichtiger Abschnitt in psychologischen Entwicklungsprozessen, in denen sich Verlauf und späterer Ausgang entscheiden. Solche Entwicklungsvorgänge sind kindliche Trotzphasen, Pubertät und Klimakterium, in denen sich der Mensch verändert. Auch berufliche, familiäre und andere schwerwiegende Entscheidungssituationen können sich zu tief greifenden persönlichen Krisen ausweiten.

Aber die Krise in Wirtschaft und Finanzwesen nimmt bei den Bedeutungen des Wortes Krise den Vorrang ein, weil durch diese Verschlechterungen viele Menschen eines Landes oder gar der ganzen Welt betroffen sind. Viele verlieren bei einschneidenden Verlusten ihre Geldmittel, Immobilien oder Rücklagen die Lust am Leben und stürzen sich verzweifelt in den Selbstmord. Auch in den letzten Jahren hat es das gegeben, so schmiss sich ein Herr Merkle vor einen S-Bahnzug, weil er die starken Einbußen seines Vermögens nicht bewältigen konnte. Sicher trifft es dabei die Reichen eher als die Ärmeren, die nur wenig verlieren. Was treibt die Menschen dazu, eine Krise zu installieren? Ich habe lange gebraucht, um zu begreifen, dass in der katholischen Todsündenordnung die Habgier an erster Stelle steht. Ich hätte eher dem Neid diesen 1. Platz zugebilligt. Aber die Habgier ist noch weiter verbreitet als der Neid und die Missgunst. Sind es alte Jägerinstinkte der Steinzeitmenschen, die darauf bedacht sein mussten, möglichst viel Wild zu erlegen, um überleben zu können? Ist es der viel verbreitete Wunsch von Eltern, die es ihrem Nachwuchs ermöglichen wollen, dass er es im Leben besser haben möge als sie selbst? Oder ist es einfach das heiße Streben nach Macht, die ja nun mal hauptsächlich auf Besitz basiert? Manchmal hat mich schon der Gedanke beschlichen: Wäre es nicht besser gewesen, dem Menschen auch nur den Instinkt zu geben anstatt des Verstandes, mit dem er ja doch viel zu viel Unheil anrichtet? Wir leben auf einem Planeten der Unvollkommenheit, nichts ist 100%ig gut, und nichts ist ebenfalls 100%ig schlecht. Die Qualität bestimmt nicht nur unser Atmen, Tag und Nacht usw., sondern auch unser Wesen, unser Tun und Handeln – Gut und Böses. Eine Krise entsteht in der Regel, wenn eine Sache aus dem Ruder läuft, sprich die Kontrolle versagt und der Hang zum Bösen die Oberhand gewinnt, und das von meist nur einer Handvoll Menschen inszeniert und von den anderen entweder nicht erkannt oder aus Gleichgültigkeit, Feigheit oder Dummheit nichts dagegen rechtzeitig unternommen wird. Da denke ich gerade an das Gegenstück, das uns jetzt im Oktober 2009 an die Geschehnisse vor 20 Jahren in Leipzig bewegt. 70.000 Menschen standen auf gegen eine gnadenlose Diktatur, die zunächst alles tat, um diese friedlichen Aufstände niederzuschlagen, und das mit Gewalt. Verblüffend war die Einsicht der Gewaltsausübenden: „Auf alles waren wir vorbereitet, aber nicht auf Gebete und Kerzen!“ Gäbe es doch in Wirtschaft und Finanzwesen solche Mutigen, die gegen die unersättliche Habgier der Bänker, Manager, Börsenmakler usw. sich erheben und ihr verhängnisvolles Vorgehen bremsen würden! Aber das ist nur ein Wunsch aus der Froschperspektive, der keinen Zugang zur Realität zu haben scheint.

Und da ist noch etwas, das eine große Nebenrolle bei diesen verruchten Machenschaften spielt: der Drang nach Freiheit. Amerika hat lange von der begrenzten Freiheit geträumt, aber die gibt es nicht in der Realität. Wenn dieses grenzenlose Freiseinwollen durchbricht, dann führt es schnell zu Missbrauch, uferloser Habgier und Verarmung der Mittelschicht. So spielen die USA seit geraumer Zeit Weltpolizist und glauben, dass nur sie das Recht hätten, anderen vorzuschreiben, wie sie zu leben hätten. Durch diese Rücksichtslosigkeit auf andere, gleichberechtigte Kulturen und Lebensstile wird viel zerstört, Menschenleben kommen zu schaden und ganze Landstriche veröden. Wie können wir, die wir den Amis alles nachäffen, diesen bösen Traum wieder abschütteln und mit unseren Nachbarn nah und fern im Frieden leben mit einer beschränkten Freiheit, denn die Freiheit des Einzelnen geht n u r bis zur Grenze der Freiheit des Nächsten!

Wie entstehen Krisen?
Es war die Ideologie der Freiheit, die zu einem gefährlichen System ausartete, es ließ die Banken machen was sie wollten, die Geldinstitutionen und großen Versicherungen sind zu Monstern mutiert und haben nicht nur die USA, sondern auch die ganze Welt in diese Krise gestürzt. Nun liegt dieses globale Monster am Boden, und es liegt an den Regierungen weltweit, es so zu fesseln, dass es nicht wieder aufsteht.

Ehrliche Kritiker bezweifeln, das dass gelingt, weil die Macht des Geldes inzwischen einen so unumstößlich hohen Stellenwert erreicht hat, so dass nicht nur unsere Regierung auf einmal sehr schnell handelt und Geldberge locker macht um verschuldete Banken zu retten, anstatt sie auch mal in die Pleite stürzen zu lassen wie andere Betriebe und mit ihnen Tausende von Arbeitsplätzen.

Der Glaube der Erfolgsoptimierung, Profitgier und Rücksichtslosigkeit gilt längst als das arttypische Verhalten der Menschen schlechthin. Das der Mensch seinem Wesen nach Kapitalist sei, das ist der Glaube unserer Zeit. Natürlich gibt es auch die gegenteilige Meinung, so z.B. von Adam Smith, der glaubt, der Mensch sei von Grund auf gut. Dagegen spricht das Alte Testament eine andere Sprache: „Des Menschen Herz ist zum Bösen geneigt von Jugend auf.“ Ein altes Sprichwort sagt, dass Geld den Charakter des Menschen verderbe. Wir kennen auch die Parabel vom reichen Jüngling, der Jesus nachfolgen aber sein Hab und Gut nicht verschenken wollte. Darauf antwortet der Meister: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher ins Himmelreich.“ Die Habgier und das Machtstreben verdunkeln den Ausblick auf das Lebensende, den Tod jedes einzelnen, das ist die einzige wahre Gerechtigkeit auf dieser Erde. Keiner kann von all dem, was er ehrlich oder unehrlich erworben hat, nicht ein Jota mitnehmen. Aber dieser Gedanke ist so unpopulär wie kein anderer und wird einfach verdrängt.

Marion Gräfin Dönhoff, die am 2. Dezember 2009 hundert Jahre alt geworden wäre, hat die Vorzeichen der jetzigen Krise richtig erkannt und davon gesprochen, dass dieser schon zu ihren Lebzeiten erkennbare „Raubtier-Kapitalismus“ durch strengere Regeln besonders im Finanzwesen gezügelt werden müsse. Ein weiterer Satz von ihr lautet: „Eine freie Republik kann nicht ohne Tugend sein“. Mögen solche Sätze auch belächelt werden, einer – ich glaube es war Helmut Schmidt – hat ihre Warnungen ernst genommen und angeregt, „dass der Kapitalismus zivilisiert werden müsse“, und auch er hat versucht, diese unbequemen Vorgaben durch Kontrollen und strenge Auflagen zu erhärten, umsonst. Auch auf ihn hat keiner gehört, und so konnte sich diese unbegrenzte Habgier weiter ausbreiten und viele anständigen Sparer in den Ruin treiben. Auch der sich durch Jahrhunderte immer wiederholende Völkermord gehört zur Krise, eine Minderheit gerät in Bedrängnis und soll ausgerottet werden, Menschen in der Krise, ihre Angst vor Verfolgung, Misshandlung und Mord versetzt sie in Panik. Vor kurzem sah ich eine Dokumentation im Fernsehen, wie der amerikanische Verfasser des Buches „Hitlers willige Vollstrecker“ Goldhagen mit seinem Vater die Stelle nahe einem östlichen KZ besuchte, wo dieser als 10jähriger Junge mitansehen musste, wie seine ganze Familie von der SS erschossen wurde und er den Tod vor Augen hatte. Dieser Vater Goldhagen beschäftigt sich seit 30 Jahren mit dem Thema Völkermord. Dabei taucht die Erkenntnis auf, dass wie bei den Wirtschaftskrisen die Menschen nichts dazu lernen und es immer wieder tun weltweit.

Was muss geschehen, dass eine nachhaltige Änderung der Menschen dieser Erde bewirken könnte? O, es gibt viele Rezepte dagegen, aber die werden nicht von denen befolgt, die sich immer wieder an ihren Mitmenschen vergehen, sei es durch Kriege, Genozide oder Geldkrisen. Es gibt viele Prophezeiungen, die ein Jahrtausend des Friedens vorhersagen nach globalen Naturkatastrophen, Überschwemmungen usw. Aber die können uns nicht weiterbringen, abgesehen davon, dass keiner den genauen Zeitpunkt des Eintreffens dieser frommen Visionen kennt. Wir sollten wieder mehr Zeit füreinander, besonders für unsere Kinder haben und sie nicht einfach dem Bildschirm überlassen, mehr Respekt vor dem Partner und weniger Scheidungswünsche aufkommen lassen, echte Toleranz üben, und zwar gegenseitig. Mehr Bescheidenheit und Zufriedenheit mit dem Erreichten würde diese hässliche Hydra Habgier bremsen, und sicher gäbe es dann auch weniger Streit in unserer Gesellschaft.

Nach dem Einsturz der Zwillingstürme in New York am 11. September 2001 hat ein Liedermacher, der gerade an diesem Tag seinen 50. Geburtstag feierte, seine Gedanken dazu in einem seiner Lieder zusammengefasst. Er sagt sinngemäß, dass wir alle bei uns anfangen müssten, Frieden mit unserem Umfeld zu schaffen, und wenn viele das tun, dann könne es nicht mehr zu solchen katastrophalen Krisen kommen.

(c) Anneliese Useldinger / Bonn

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