Simon Kuhlmann, Leseprobe

Als ich jetzt auf dem Weg zum Gleis bin, fällt mir wieder eine Begebenheit aus meiner Studentenzeit ein. Da ging ich, wie so oft zu der Zeit, mit dem weißen Stock durch den Dortmunder Hauptbahnhof. Plötzlich hörte ich die Stimme eines vielleicht achtjährigen Mädchens: „Guck mal Mama! Da ist ein Behinderter!“ Es folgte eine Pause, in der ich das tadelnde Flüstern der Mutter erahnen konnte, dann sprach wieder das Mädchen in unveränderter Lautstärke: „Doch Mama! Das haben wir in der Schule gelernt! Das ist ein Behinderter!“ Und was soll ich sagen: Gut aufgepasst Mädel. Blindheit gehört zu den Behinderungen, also bin ich ein Behinderter. Jetzt gibt es Leute, die sind der Meinung, dass man Behinderter nicht sagt, sondern behinderter Mensch oder Mensch mit Behinderung. Andere wollen sogar den Behinderungsbegriff komplett vermeiden. So spricht man in der Sonderpädagogik gerne von Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf. Muss jeder selber wissen, was er sagt oder nicht sagt, aber ich hab was gegen political correctness. Mich stört es jedenfalls nicht, wenn man von mir behauptet, ich sei ein Behinderter. Das Wort ist nämlich nicht das Problem, sondern, wie es gemeint ist, und wenn ein Kind lediglich wiedergibt, was es in der Schule gelernt hat, will es mich sicher nicht beleidigen.
Anders sieht es da schon aus – und so ist es während meiner Schulzeit einmal geschehen -, wenn ein Junge einem anderen zuruft: „Ey! Sven! Pass auf! Da ist ein Behinderter im Anmarsch!“ Dieser Ausruf sollte mich treffen, hat er aber nicht, weil ich da drüberstand. Später im Job bei der rheinischen Stadt Königswinter kam dann eines Tages ein Bürger ins Büro und sagte zu meiner Kollegin: „Dat letzte Mal, wie isch hier war, hab isch mit so ‚nem Behinderten jesprochen.“ Weil meine Kollegin daraufhin gleich auf mich zeigte („Da sitzt er doch.“), wandte sich der Herr nun direkt an mich und wir konnten sein Anliegen in einem beiderseitig freundlichen Gespräch klären.

Fazit:
Der Bürger hatte sich bzgl. meiner Behinderung nicht bewusst abfällig geäußert, sondern nur unbedacht.
Und was ist mit einer Formulierung wie „Seid ihr behindert!?“, die z. B. meiner Tante entfuhr, als mein Vater und ich mal mit einer affenartigen Geschwindigkeit auf dem Tandem an ihr vorbeigerast sind? Hier wird das Wort behindert ja als Synonym für verrückt oder blöd verwendet. Somit werden doch, wenn man sowas sagt, Behinderte beleidigt. Sie werden als verrückt / blöd hingestellt. – Ja, stimmt schon, aber da kann ich nicht so streng sein, erst recht nicht, weil solche Äußerungen auch von Leuten kommen, die definitiv nichts gegen Behinderte haben. Das ist halt Sprachgebrauch und den kann man künstlich nur schwer beeinflussen.

Was für behindert gilt, gilt übrigens auch für blind. Wir hatten in der Schule einen Bio- und Erdkundelehrer, der sprach immer von den Nicht-Sehenden, als ob das besser wäre. Im Zweifelsfall ist es sogar schlechter. Während blind einfach ein Adjektiv ist, ist nicht-sehend die Verneinung eines anderen, wodurch das Defizit der Blinden besonders betont wird.
Aber es geht noch schlimmer: Mehr als einmal habe ich Sätze gehört wie „Der ist so wie Sie / hat dasselbe wie Sie“. Weil solche Formulierungen nur funktionieren, wenn das vermiedene Wort blind / Blindheit mitgedacht wird, ist doch nichts gewonnen.