Bettina Hanke

Bettina Hanke

Zu meiner Person

Aufgewachsen bin ich mit einem normalen Sehvermögen in Nordostbayern. Dort absolvierte ich nach dem Abitur zunächst eine kaufmännische Lehre und anschließend ein Betriebswirtschaftsstudium. Einige Jahre arbeitete ich als Wirtschaftsprüfungsassistentin.
Zum Schreiben kam ich durch eine Netzhauterkrankung. Als es mir nicht länger möglich war, meinen Kindern vorzulesen, erfand ich kurzerhand eigene Gute-Nacht-Geschichten. Daraus entwickelte sich meine Leidenschaft fürs Schreiben.
Mein Hobby seit Kindertagen ist das Lesen. Handelte es sich früher um „normale“, also gedruckte Bücher, so greife ich heute zu Hörbüchern und zu Punktschriftbüchern.
Um letztere lesen zu können, habe ich mir die Brailleschrift selbst beigebracht, zunächst die sogenannte Vollschrift und später auch die Kurzschrift, in der die meisten Braillebücher produziert werden. Zwar lese ich sehr langsam, genieße es jedoch, mir das eine oder andere Buch ohne einen „dazwischen geschalteten“ Sprecher zu Gemüte führen zu können.
Gemeinsam mit meinem Mann, unseren drei Kindern und einer kleinen Hühnerschar lebe ich im Norden Frankens.

Veröffentlichte Geschichten

In „Farbenfrohe Dunkelheit“

Zu unserer BLAutor-Anthologie „Farbenfrohe Dunkelheit“ habe ich drei Geschichten beigesteuert:

  • Charlys Haus
  • Das Versteck
  • Der Sturz

In Abenteuerliche Anekdoten blind erlebt

In unserer zweiten Anthologie erzähle ich eine wahre Begebenheit:
Kettenreaktion

Onkyo Braille Essaying Contest

Auf der Seite des DBSV findet sich eine Geschichte, die ich für den Onkyo Braille Essaying Contest verfasst habe:
Punkte zeigen den Weg

Leseproben

Der Sturz (Mein Neun-Wörter-Schreibwettbewerb-Gewinnertext 2020)

„Ach Gott!“ Mutters Schrei gellte durch das Haus.
Heidi ließ den Becher Wackelpudding fallen. Sie rannte die Holztreppe hinauf.
Mutter kniete in der Türöffnung zu Tante Margas Zimmer. „Ach Gott!“, jammerte sie, „Marga! Wach auf!“ Dann klatschte es.
„Was hat sie?“ Heidi beugte sich vor.
Tante Marga lag langgestreckt auf dem Boden und wimmerte leise. Ihre Wange glühte rot.
„Sie ist wohl gestürzt!“
„Ich rufe den Arzt“, sagte Heidi.
„nein“, empörte sich die Mutter, „Keinen Arzt! Wir lassen uns doch nicht von denen da oben ausnehmen!“
Heidi seufzte. „die da oben“, das waren die Typen in der Politik. Seit diese die Praxisgebühr eingeführt hatten, war ihre Mutter nicht einmal beim Zahnarzt gewesen.
„Komm, wir legen sie aufs Bett!“, entschied die Mutter, „dann wird das schon wieder! Aber bloß nicht mit den Füßen zuerst, das bringt Unglück!“
Heidi verdrehte die Augen. Mutter und ihr Aberglauben! Gemeinsam verfrachteten sie die Tante auf ihr Bett.
Mutter flößte ihr den letzten Rest Orangensaft aus dem Glas ein, das auf dem Nachttisch herumstand.
Heidi betrachtete ihre Tante skeptisch. Was, wenn diese wirklich Hilfe brauchte? Aber Heidi wagte es nicht, sich ihrer Mutter zu widersetzen und den Notruf zu wählen. Sie nahm die Hand ihrer Tante.
„Tante Marga, wie geht es dir?“
Marga sagte etwas. Sie sprach undeutlich und ihre Zunge schien ihr nicht zu gehorchen.
Was, wenn es ein Schlaganfall war? Welch ein Albtraum!
Durch das gekippte Fenster hörte Heidi das Auto ihres Sohnes in die Sackgasse einbiegen.
Keine zwei Minuten später stand Jan im Türrahmen, die Sonnenbrille auf der Nase und das Handy in der Hand. „Was ist denn hier los?“
„Tante Marga ist umgekippt und deine Oma weigert sich, einen Arzt zu holen!“, sagte Heidi.
Er kam ans Bett und strich der Tante übers Haar. „Tante Marga, erkennst du mich?“
„Mein Prinz!“, nuschelte sie.
„Ja, genau!“, flüsterte Jan. Dann zeigte er auf die leere Flasche. „Wo kommt die her?“
„Die hab ich ihr hingestellt“, sagte Heidis Mutter, „Die stand über eine Woche halbvoll im Flur rum!“
Heidi atmete tief ein. „Dann ist das die Flasche aus Jans Auto. Die hab ich rausgetan, als ich es letzte Woche saubergemacht habe!“
„Und die hat Tante Marga getrunken?“, fragte Jan ungläubig. „Nicht euer Ernst, oder?“
„Doch“, sagte Heidis Mutter, „den Saft darf man doch nicht umkommen lassen!“
„Saft?“ Jan hüstelte.
„War da kein Orangensaft drin?“, fragte Heidi, „Aber der sah ganz normal aus!“ Was hatte Jan nur in der Punica-Flasche aufbewahrt? Doch nicht etwa – GIFT?!
„Mama!“, sagte Jan vorwurfsvoll, „das war Flos Flasche! Der hat sich da was Hochprozentiges gemixt! Hat das Tante Marga alles gesoffen? Dann ist sie jetzt sturzbetrunken!““

Diese Geschichte wurde bereits in der Anthologie „Farbenfrohe Dunkelheit“, herausgegeben von Dieter Kleffner, erschienen im Edition Paashaas Verlag, Hattingen, veröffentlicht.

Ein Lob aufs Schreiben Gedicht

So viele verrückte Sachen
Wollt ich schon immer mal machen
Bei manchem fehlte mir der Mut
Bei anderen dacht ich, „das geht nicht gut“
Also ließ ich am Ende alles bleiben
Außer einem: ich begann zu schreiben
Manche mögen das komisch finden
Würden sich nie mit Wörtern schinden
Doch auch wenn sie es nicht verstehen
Möchte ich diesen Weg weitergehen
Werde mir die Zeit vertreiben
Mit schreiben, schreiben, schreiben
Denn in Geschichten kann ich alles machen
Lieben, schimpfen, morden oder lachen
Da gibt es einfach keine Grenzen
Ich kann sogar das Unmögliche kredenzen
Darf Schweine fliegen lassen
Dem Bösewicht eine Hirnamputation verpassen
Und selbst für streng verbotene Unterfangen
Wird mich niemals ein Mensch belangen
Denn auf Papier, da kann ich es wagen
ohne dass mich Staatsdiener verklagen
Ja, meine Fantasie Darf sich austoben ganz und gar
Ist das nicht einfach wunderbar?

Hausaufgaben sind so eine Sache (Kindergeschichte)

„Tim, was hast du auf?“ Die Mutter schaut Tim erwartungsvoll an.
Tim legt das Gesicht in Falten. Er sieht so aus, als denke er angestrengt nach. „Ich weiß nicht“, antwortet er schließlich.
„Natürlich weißt du es!“, erwidert Tims Mutter, „Und jetzt machst du deine Hausaufgaben!“
„Aber wenn ich es nicht weiß!“, sagt Tim trotzig.
„Du wirst es schon wissen!“, lacht die Mutter.
„Aber ich weiß es nicht!“, behauptet Tim ganz ernst. Dann fragt er: „Mama, was hab ich auf?“
„Woher soll ich das denn wissen?“, entgegnet die Mutter, „Tim, warst du in der Schule oder ich?“
„Du!“, antwortet Tim schnell, „Mama, du warst viel länger in der Schule als ich! Also, was hab ich auf?“
„Tim!“ Die Mutter schaut ihren Sohn streng an.
„Wenn du es nicht weißt“, mault Tim, „wieso soll es dann ausgerechnet ich wissen?“
„Weil die Lehrerin es dir gesagt hat!“, erwidert die Mutter.
„Mir?“ Tim schüttelt seinen Kopf. „Vielleicht“, ergänzt er leise, „vielleicht hat die Lehrerin es Jonas gesagt!“
„nein!“ Jetzt schüttelt die Mutter ihren Kopf. „Das kannst du vergessen!“
„Was kann ich vergessen?“, wundert sich Tim.
„Dass ich Jonas schon wieder anrufe!“, erklärt die Mutter.
„okay, ich vergesse es!“, sagt Tim, „Und du vergisst die blöden Hausaufgaben!“
„Von wegen!“ Die Mutter droht Tim mit dem hin und her wackelnden Zeigefinger. „Tim, du machst jetzt deine Hausaufgaben! Auf der Stelle!“
„Aber wenn ich doch nicht weiß, was ich machen soll!“, beharrt Tim. Und dann ergänzt er: „Wenn du es unbedingt wissen willst, kannst du meinetwegen den Jonas fragen!“
„Nein!“, widerspricht die Mutter, „Ich frage ihn heute bestimmt nicht! Ruf ihn selbst an!“
„Immer ich“, jammert Tim, „Außerdem weiß der Jonas das bestimmt auch nicht!“
„ Ruf ihn an oder du bekommst Ärger!“, droht die Mutter.
Aber Tim hat keine Lust dazu. „Nö!“, sagt er stur.
„Ich diskutiere nicht mit dir! Du machst jetzt deine Hausaufgaben!“ Der Mutter wird es allmählich zu bunt.
Tim merkt es und gibt scheinbar nach. „Na gut!“, seufzt er
und kramt sein Hausaufgabenheft aus dem Schulranzen. Geräuschvoll blättert er es auf. „Da steht nichts drin!“, verkündet er und seufzt.
„Dann rufst du den Jonas an!“, verlangt die Mutter.
„Den Jonas? Ach, ruf den lieber du an!“, sagt Tim.
„Nein!“ Die Mutter bleibt unnachgiebig.
Tim schaut auf sein leeres Hausaufgabenheft. Da hat er eine Idee. „Ich glaube, wir haben gar nichts auf!“ Er grinst breit.
„Das glaub ich nicht!“, widerspricht seine Mutter, „Ich ruf jetzt den Jonas an!“ Das tut sie dann auch. Sie schreibt alles auf einem Zettel auf. Als sie endlich fertig ist, dankt sie Jonas und legt auf.
„So, und jetzt keine Ausreden mehr!“, Sagt sie zu Tim. Sie schaut auf den Zettel. „Also, ihr sollt etwas in der weißen Mappe lesen!“
„Brauch ich nicht! Hab ich schon gemacht!“, behauptet Tim.
„Dann liest du es eben noch einmal!“, erklärt ihm die Mutter.
„Zweimal hat aber die Lehrerin nicht gesagt!“
Doch seine Mutter gibt nicht nach.
Tim muss laut vorlesen. Er tut es widerwillig.
„So“, sagt die Mutter, als er damit fertig ist, „und jetzt malst du den Hasen Heinrich in die Mappe!“
Tim überlegt kurz, dann holt er einen braunen Buntstift aus seinem Federmäppchen. Er sieht den Stift lange an. „Ich kann den dicken Heinrich nicht malen!“, erklärt er schließlich.
„Natürlich kannst du!“, erwidert die Mutter streng.
„Aber der Stift ist viel zu klein! Der reicht nie und nimmer für einen so dicken Hasen!“ Tim hält seiner Mutter den Buntstift direkt vor die Nase. Der Stift ist noch ungefähr halb so lang wie ein neuer Stift.
„Dieser Stift reicht noch für viele Hasen!“, entscheidet die Mutter. „Male jetzt endlich den Hasen!“
Tim seufzt tief, ganz tief. Er blättert in der Mappe, bis er ein leeres Blatt gefunden hat. Dann fängt er an, seinen Hasen zu malen. Er malt ihn riesengroß und sehr, sehr dick. Er malt ihn so dick, dass nur eine Hasenhälfte aufs Blatt passt. Aber diese Hälfte malt er besonders schön. Und er malt die gesamte Hasenhälfte braun aus. Tim ist mit seinem Werk sehr zufrieden.
Seine Mutter nicht. „Tim!“, ruft sie entsetzt, „Du hast ja nur einen halben Hasen gemalt!“
„Na, wenn das Blatt so klein ist!“, redet sich Tim heraus.
„Du hättest nur ein bisschen kleiner malen müssen“, erklärt die Mutter.
„Das geht nicht“, widerspricht Tim.
„Warum denn nicht?“, will die Mutter wissen.
„Weil der Hase doch ganz dick sein muss!“, erklärt Tim bestimmt.
„Quatsch!“, sagt die Mutter. Und dann verlangt sie: „Du malst ihn jetzt noch einmal kleiner! Und ganz!“
„Nein!“ Tim verschränkt seine Arme.
„So kannst du ihn jedenfalls nicht lassen!“, urteilt die Mutter, „Ein halber Hase, wie sieht das denn aus!“
„Was kann ich dafür, wenn der Hase zu dick ist für das Blatt!“, sagt Tim trotzig. Dann legt er seinen Kopf schräg. „Eigentlich sieht er doch schön aus!“, befindet er nach einer Weile.
„Aber er ist nur ein halber Hase!“, wendet seine Mutter ein.
„Der bleibt so!“, entscheidet Tim.
„Der bleibt auf keinen Fall so!“, bestimmt die Mutter. „Oder was glaubst du, was deine Lehrerin dazu sagen wird?“
„Die sagt, dass er schön ist!“, behauptet Tim.
„Ich schätze, sie fragt dich, wo die zweite Hälfte geblieben ist!“
Tim überlegt nur einen Moment. Dann grinst er breit. „Die Lehrerin merkt das doch gar nicht!“, erklärt er feierlich, „Und wenn sie es trotzdem merkt, sag ich einfach, die andere Hälfte ist daheim auf dem Tisch! Weil die nicht mehr aufs Blatt gepasst hat!“
„Und was machst du, wenn deine Lehrerin hier vorbeikommt, um sich die zweite Hälfte anzuschauen?“, erkundigt sich die Mutter.
„Dann…“, überlegt Tim laut, „ja dann…“ Er blickt auf die glänzend weiße Tischplatte. „Dann sag ich, du hast alles weggewischt!“
„Tim!“, sagt die Mutter scharf.
„Oder ich leg die Mappe neben ein Buch. Dann sag ich, der andere halbe Hase hat sich im Buch versteckt!“
„Das ist alles Quatsch!“, widerspricht die Mutter, „Du malst jetzt einen ganzen Hasen!“
„Aber das Blatt ist schon voll!“ Triumphierend tippt Tim auf das bemalte Blatt.
„Ich gebe dir ein neues Blatt und du tauschst es gegen das alte aus! Und du malst einen ganzen Hasen darauf!“, bestimmt die Mutter.
Tim zeigt sich immer noch nicht einsichtig. „Nein!“, brüllt er, „Den schönen Hasen nehm ich nicht aus meiner Mappe! Wo ich mich so angestrengt habe!“
Da hat die Mutter eine andere Idee. „Wie wäre es“, fragt sie, „wenn du einfach ein zweites Blatt an deinen halben Hasen klebst? Darauf malst du den restlichen Hasen!“
„Das geht auch nicht!“, sagt Tim.
„Und warum nicht?“ Die Mutter klingt nun gar nicht mehr freundlich.
„Weil“, erklärt Tim, „das angeklebte Blatt aus der Mappe raushängt und die Mappe nicht in den Schulranzen passt!“ Diesen Einwand findet er sehr überzeugend.
Seine Mutter nicht. „Du klappst das Blatt natürlich nach innen, wenn du fertig bist!“, sagt sie.
„Nein!“ Tim weigert sich.
Und endlich scheint die Mutter nachzugeben. Jedenfalls blickt sie auf ihre Notizen und liest vor: „Wolle. Du sollst Wolle mitbringen!“ Sie steht auf und öffnet die Truhe unter der Sitzfläche der hölzernen Eckbank. Sie kramt darin herum, dann fragt sie: „Möchtest du ein rosa Wollknäul haben?“
„Igitt!“, ruft Tim, „Das ist eine Mädchenfarbe!“
„Oder lila?“, erkundigt sich die Mutter.
„Mädchenfarbe!“, winkt Tim verächtlich ab.
„Dann hab ich nur noch grün. Ist das in Ordnung für dich?“, sagt die Mutter.
Tim schnauft laut hörbar. „Wenn es unbedingt sein muss! Gib her!“ Er packt das grüne Wollknäul ein und will die Mappe gleich hinterher schieben.
„Halt!“, ruft seine Mutter, „Erst malst du den Hasen ganz!“
„Ach nö!“, stöhnt Tim.
„Gut, dann machen wir zuerst die Mathe-Hausaufgabe!“, verkündet die Mutter.
Das gefällt Tim auch nicht besser. „Rechnen auch noch?“, fragt er.
„Ja! Hol dein Übungsheft heraus und schlage die Seite 29 auf!“
Tim zieht das Heft im Zeitlupentempo aus dem Ranzen. Das Aufblättern dauert eine Ewigkeit. Dann liest er laut vor: „Wie viel minus fünf ist dreizehn. Mama, was kommt da raus?“
„Das rechnest du mal schön selber aus!“, bestimmt die Mutter.
Tim zieht einen Schmollmund. „Du hast gesagt, WIR machen Rechnen! Ich hab vorgelesen, du sagst das Ergebnis! Dann ist es gerecht aufgeteilt!“
„Es ist deine Hausaufgabe! Die machst du!“, sagt die Mutter. „Ich passe nur auf, dass du sie richtig machst!“
Tim bleibt also nichts anderes übrig als selbst zu rechnen. Er jammert und stöhnt, behauptet, er habe Hunger, müsse auf die Toilette, habe Kopfschmerzen und könne nicht eine Sekunde länger auf dem Stuhl sitzen.
Seine Mutter geht gar nicht darauf ein. Sie treibt Tim dazu an, endlich zu rechnen.
Das tut er dann auch. Als er schließlich fertig ist, sind seine Kopfschmerzen genauso rasch verschwunden wie sie zuvor gekommen waren. Der Hunger hat sich ebenfalls in Luft aufgelöst. Nur die Mappe mit dem halben Hasen liegt noch da.
Tim packt das Übungsheft weg und versucht, die Mappe mit dem Hasen hinterher zu schmuggeln.
„Stopp!“, ruft die Mutter. „Da fehlt noch ein halber Hase!“
„Ich hab gedacht, den kann ich jetzt so lassen!“
„Drüben in Vaters Arbeitszimmer sind leere Blätter!“, erklärt die Mutter, „Da holst du dir eines!“
„Später! Erst hab ich Durst!“, behauptet Tim.
„Dann gehst du eben durstig ins Arbeitszimmer!“, sagt die Mutter.
„Du bist echt grausam!“, beklagt sich Tim und macht sich endlich auf den Weg. Er kommt mit einem rosa Blatt zurück.
„Hast du kein weißes Blatt gefunden?“, fragt die Mutter.
„Ich will das hier!“, behauptet Tim.
„Na gut!“ Die Mutter gibt nach. Sie klebt das Blatt seitlich am Blatt mit dem halben Hasen fest. „So, und jetzt wird gemalt!“, verlangt sie.
Tim gehorcht. Allerdings malt er diese Hasenhälfte lustlos und eher wie ein Strichhäschen. Er begnügt sich mit den Umrissen, malt nur das Nötigste auf den rosa Untergrund. So kommt es, dass der Hase auf einer Seite rosa wie ein Schweinchen ist.
„Willst du den Hasen nicht ausmalen?“, erkundigt sich die Mutter.
„Nein!“ Tim steckt seinen Buntstift ins Federmäppchen zurück.
„Tim, mal ihn doch wenigstens aus!“, empfiehlt die Mutter. „Wie sieht das denn so aus!“
„Der Hase ist so dick“, verkündet Tim, „dass er Haarausfall bekommen hat! Schau, die eine Seite ist schon kahl! Da sieht man die Haut!“
Die Mutter sagt nichts dazu. Sie gibt endlich auf. Zumindest, soweit es das Malen betrifft. „Du musst noch etwas ausschneiden!“, liest sie von ihrer Liste vor.
„Ich muss nicht ausschneiden!“, widerspricht Tim, „sondern ich muss aufs Klo!“ Er flitzt los, tut so, als sei es dringend. Und dann dauert es. Er sitzt auf dem Klo und lässt die Zeit vergehen.
Irgendwann kommt seine Mutter, um nach ihm zu sehen. „Wo bleibst du denn?“, will sie wissen.
Tim starrt auf den Fußboden, weil ihm keine Ausrede einfällt. Jedenfalls nicht sofort. Denn als er so auf die Fliesen starrt, kommt ihm eine glänzende Idee. „Ich komm gleich!“, sagt er, „Ich musste nur die ganzen Haare einsammeln und ins Klo werfen!“
„Welche Haare denn?“, fragt die Mutter verständnislos.
„Na, die Haare, die der Hase mit der rosa Haut verloren hat!“ Dann erhebt Tim sich von der Klobrille, spült und wäscht sich sogar die Hände. Und endlich schneidet er die Bildchen aus und beendet seine Hausaufgaben.

Die einsame Helena (Märchen)

Neugierig betrachtete der Jüngling das Gemälde. „Wer ist die Frau auf diesem Bild?“, wandte er sich an den Hausherrn.
„Das ist Helena, die Einsame!“
„Die Einsame!“, murmelte der Jüngling, „Sie ist wunderschön! Und sie sieht aus wie eine Prinzessin aus dem Märchen!“
Der Hausherr nickte. „Ja, das tut sie! Aber sie gibt es nicht bloß auf dem Papier! Sie ist aus Fleisch und Blut! Und sie wird nicht von einem Drachen gefangen gehalten, sondern von ihrer eigenen Einsamkeit!“ Er tat einen tiefen Seufzer. „Ach, wenn doch einer käme, der sie daraus befreite! Sie nähme ihn zum Manne!“
„Ich will es gerne versuchen!“, bot sich der Jüngling an, „Was muss ich tun?“
Der Hausherr zuckte bedauernd mit den Achseln. „Ich weiß es nicht!“, bekannte er, „Doch wenn ihr dreimal versagt, so verwandelt ihr euch in eine Statue aus Stein!“ Er deutete auf eine Reihe steinerner Skulpturen. Allesamt waren Abbilder junger Männer. „Erst wenn der Bann der Einsamkeit gebrochen ist, werden sie wieder zum Leben erwachen!“
Überraschung spiegelte sich in des Jünglings Antlitz, als er einen seiner Vetter unter ihnen erkannte. „Mir bleibt keine Wahl!“, sagte er entschlossen, „Ich habe meinem Oheim versprochen, nach dem Vetter zu suchen und ihn wohlbehalten heimzubringen! Und diese Helena, die führe ich als Braut nach Hause! Wo finde ich sie?“
Der Hausherr führte den Gast zu einer abgelegenen Kammer. Dort saß in der finstersten Ecke die wunderschöne Helena. Neben ihr auf einem kleinen Tischchen stand ein merkwürdiger hölzerner Kasten.
„Das hat einer der Jünglinge für Helena gebaut, damit sie nicht mehr so einsam ist. Darin versteckte er einen Vogel, der für sie singen sollte. Er nannte seine Erfindung Radio! Aber der Vogel singt nicht!“
Der Jüngling schaute Helena lange an. Je länger er hinsah, desto deutlicher spürte er die Mauer der Einsamkeit, die sie umgab. Er trat ganz nahe an sie heran, doch sie reagierte nicht. Vielmehr wirkte sie verlassener denn je. Und noch etwas anderes bemerkte er, als er ihr so nahekam: Sie verbreitete eine Eiseskälte, die ihn schaudern machte.
Er untersuchte den hölzernen Kasten und fand den Vogel darin erfroren vor. „Wärme! Sie braucht Wärme!“, sagte er.
Sein erster Versuch bestand darin, sie in wärmende Decken zu hüllen. Nichts geschah.
„Ihr habt noch zwei Versuche!“, ermahnte ihn der Hausherr, „Wählt mit Bedacht eure nächste Handlung!“
Der Jüngling schaffte dürre Äste und Gehölz heran. Als er einen großen Berg davon zusammengetragen hatte, entfachte er mitten in der Kammer ein Feuer.
Die Flammen tanzten und züngelten und sie erwärmten den kleinen Raum. Nur die Einsame wollte und wollte sich nicht erwärmen.
Der Jüngling wusste sich keinen Rat mehr. Da fiel sein Blick auf den hölzernen Kasten, der geöffnet dastand. Der Vogel, jetzt aufgetaut, wirkte putzmunter. Er trippelte aufgeregt in dem Kasten hin und her, dann legte er ein Ei.
„Ausbrüten!“, murmelte der Jüngling, „Du musst es ausbrüten!“ Sein Blick wanderte von dem Ei zu Helena. „Ausbrüten!“, murmelte er dann wieder, „Ausbrüten! Ach, welch ein Schwachsinn! Wie sollte ich sie denn ausbrüten!“ Aber ihm fiel einfach nichts Besseres ein und so wagte er einen letzten verzweifelten Versuch.
Er setzte sich auf ihren Schoß und gefror fest. Doch das Feuer, das hell lodernd den Raum aufheizte, erwärmte seine Glieder ganz allmählich wieder. Ihm wurde warm und wärmer, Schweißperlen benetzten seine Stirn. Als eine kleine Perle auf Helenas Arm herniederging, geschah das Wunder.
Sie taute auf! Sie regte sich und sie umschlang den schwitzenden Jüngling. Unten in der Halle fielen sich die aus der Erstarrung befreiten Jünglinge lachend und scherzend in die Arme.
Der eine Jüngling jedoch, der in der Kammer bei der schönen Helena saß, wurde mit Gold und Edelsteinen überhäuft. Man steckte ihn in die vornehmsten Kleider und er führte die schöne Helena zum Altar. Unter den Ehrengästen befanden sich sein überglücklicher Oheim und sein Vetter. Der Vogel jedoch flog mit seiner Brut hinaus in die Freiheit.
Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute glücklich und zufrieden in einem prächtigen Schloss inmitten eines großen Rittergutes. Manchmal fliegt ein schillernder Vogel herbei und lässt sich in der Krone einer mächtigen Eiche nieder, um ihnen sein Lied zu zwitschern.

Diese Geschichte habe ich mit den neun Wörtern des Schreibwettbewerbs 2015 außer Konkurrenz geschrieben.