Misty


Heinrich Thyron - April 2006

Märchen


Es war einmal vor gar nicht allzu langer Zeit, da wohnte ein armer junger Mann in einer winzigen Wohnung mitten in der Stadt. Er hatte nur Hauptschulabschluß, denn seine inzwischen verstorbenen Eltern konnten ihm keine weiterführende Bildung finanzieren. Und so mußte er denn froh sein, schließlich einen Posten als einfacher Verwaltungsangestellter zu bekommen.

Trotzdem war er kein Griesgram, obwohl er gern mit einer netten jungen Frau zusammengelebt hätte. Aber dafür fehlte ihm gegenüber dem schwächeren Geschlecht die notwendige wirtschaftliche Mindestattraktivität. Und so war er denn oft allein, hörte Radio oder las Bücher über fremde Länder und Völker, die er sehr gern einmal kennengelernt hätte.

Eines Tages - er war wie so oft allein zu Hause und las in einem Buch - da kratzte es an seiner Wohnungstür. Er ging hin und öffnete, da stand vor ihm ein kleiner weißer Hund; es war, wie er gleich erkannte, ein West Highland Terrier, eine ursprünglich schottische Rasse, soviel hatte er aus einschlägigen Büchern gelernt. Der Hund freute sich ganz offensichtlich, bei ihm sein zu dürfen, und er selbst war auch froh, einmal nicht allein sein zu müssen. Und so beschloß er denn - zumindest fürs erste - den Hund bei sich zu behalten.

Nun mußte er allerdings zunächst einmal einen Namen für seinen neuen Freund finden. Und weil er so gut wie garnichts von ihm und über ihn wußte, außer daß er im Grunde genommen ein "Brite" war, wählte er den Namen "Misty", was so viel wie "unklar" oder auch "nebelhaft" bedeutet. Das wußte er noch von einem Volkshochschulkurs für Englisch, den er vor Jahren einmal besucht hatte. Und der Hund reagierte auch gleich, wenn er ihn so ansprach.

Zum Glück war gerade Freitag Abend, und so mußte er sich nicht sofort Gedanken über den weiteren Verbleib des Tieres machen. Gleich am Samstagmorgen ging er los, um Halsband und Leine für seinen neuen Freund zu kaufen, und dann machten sich die beiden auf den Weg.

Dabei begegneten sie einigen Bekannten. Der junge Mann stellte ihnen allen seinen neuen Freund vor: "Das ist Misty." Einige reagierten freundlich, andere aber meinten, sie müßten ihre geistige Überlegenheit unter Beweis stellen, indem sie das Tier mit "Mistvieh" anredeten. Das gefiel dem jungen Mann nicht, dem Hund aber schon gar nicht. Dann drehte er nämlich demjenigen, der ihn so beleidigt hatte, sein Hinterteil zu.

Und bald erkannte das Herrchen, daß Misty Fähigkeiten besaß, die einem normalen Hund niemals zur Verfügung stehen würden. Er konnte durch sein Verhalten seinem Herrn so eindeutige Hinweise geben, daß dieser praktisch nichts mehr verkehrt machte. Alles, was er künftig tat, war gut und richtig und, wie sich sogleich oder auch erst später herausstellte, zu seinem eindeutigen Vorteil.

Einmal war er zu einem routinemäßigen Besuch bei seiner Hausbank - Misty war natürlich dabei - da wurden ihm Anteile an einem Investment-Fond angeboten, und wie der Bankangestellte versicherte, zu einem äußerst günstigen Kurs. Der junge Mann war drauf und dran, einen nennenswerten Teil seines fürwahr nicht erheblichen Bankkontos hierfür einzusetzen, da fing Misty an, ganz jämmerlich zu jaulen, er humpelte hin und her und zog so die Aufmerksamkeit seines Herrn auf sich. Der verzichtete fürs erste auf die ihm vorgeschlagene Geldanlage, das Befinden seines Hundes war ihm wichtiger. Er nahm ihn auf den Arm und strebte so schnell wie möglich nach Hause. Aber schon bald hörte das Jammern auf, und Misty war wieder der Alte. Zwei Tage später konnte man in den Nachrichten von einem weltweit dramatischen Kurseinbruch an den Aktienbörsen hören.

Und immer wieder konnte Misty seinem Herrchen wertvolle Hinweise für dessen Verhalten geben, Und der junge Mann merkte allmählich, daß er sich bedenkenlos auf diese Hinweise verlassen konnte.

Und so blieb es denn auch nicht aus, daß der junge Mann eine geradezu steile Karriere machte. Er wurde einflußreich und wohlhabend, die Frauen drängten sich darum, in seiner Nähe sein zu dürfen, und die Politiker des Landes schätzten sich glücklich, von ihm, das heißt eigentlich von seinem Hund, Verhaltensmaßregeln zu bekommen.

Als die beiden einmal sonntags im Park spazieren gingen, begegnete ihnen eine hübsche junge Frau. Misty stürzte auf sie zu, warf sich vor ihr auf den Boden und machte seinem Herrn damit klar, daß dies die Richtige für ihn sei. Der wäre sicher auch von sich aus auf diesen Gedanken gekommen, aber Mistys Verhalten enthob ihn von mühseligen und langwierigen Überlegungen. Er ging auf die Frau zu, und wie es dann weiterging, ist unschwer zu erraten. Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben alle drei noch immer glücklich zusammen.

(c) Heinrich Thyron / Dormagen


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