Wann ist Morgen?

Wann ist Morgen?

Nicole Schroll

Wenn die Sommerwinde im Herbst weh’n,
wenn Träume sich erfüllen,
und nicht vergeh’n.
Wenn die Zeichen gut am Himmel steh’n.
Wenn ich merke,
ich kann vertrau’n,
optimistisch in die Zukunft schau’n.
Wenn ich nicht mehr suche,
meinen Lebenssinn,
und weiß, wer und was ich bin.
Ja, dann, ja dann ist Morgen.

(c) Nicole Schroll / Münster

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Wann ist Morgen?

BLAutor – Arbeitskreis blinder und sehbehinderter Autoren – www.blautor.de

Gottes Geborgenheit

Gottes Geborgenheit

Nicole Schroll – Bochum, 29. September 1998
(Geschrieben in der Stadtbücherei)

Gottes Geborgenheit ist:
wie ein warmes weiches Nest.
ist: wie ein warmer Sommerregen nach einem heißen schwülen Tag.
ist sanfte Musik.
ist: wie Schneefall am Nachmittag.
ist: wie kleine Wellen, und ich lasse mich einbetten in den Rhythmus werde selbst ein Teil der Welle. Ich kann nicht mehr sitzenbleiben und muss tanzen.

Gottes Geborgenheit ist: wie ein lauer Sommerwind, der alles Böse wegweht.
Der Wind, der meine geweinten oder ungeweinten Tränen trocknet.

Gottes Geborgenheit ist: wie das Blühen einer Blume mitten im tiefsten Winter. ist: wie das sanfte streicheln über mein Haar, läßt mich erschauern.
ist: wie der Geruch von frisch gemähtem Gras, frisch, einladend, ruhig erholsam reich.

Gottes Geborgenheit ist süß und fein wie Zucker, mischt sich unter die Menschen lächelt uns entgegen. Leider schmeckt nicht jeder diese süße Geborgenheit.

Gottes Geborgenheit ist ein jedesmal neues und anderes nach Hause kommen und mit offenen Armen erwartet werden.

(c) Nicole Schroll / Münster

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Gottes Geborgenheit

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Der Wind und der Engel des Trostes

Der Wind und der Engel des Trostes

Nicole Schroll – im Juni 2005

Widmung: für meine Mutter

ich saß im Garten und freute mich an allem, was mich so umgab. Ich hörte den Rasenmäher des Nachbarn roch das frisch gemähte Gras und spürte die Sonne, die meinen rücken und meine Seele wärmte. Eine tiefe Dankbarkeit und Zufriedenheit füllten mich ganz aus. Ich vergaß all meine Schwirigkeiten, mein Langsamsein, dass mich auf der einen Seite ärgerte. Doch auf der anderen Seite bot es mir die Möglichkeit, ganz aufmerksam im Augenblick zu sein und alles zu genießen. Mitten in mein empfundenes Glück hinein rief meine Mutter von der Tür her: “Nina, komm schnell und Zieh Dich an, wir fahren jetzt zum Wochenmarkt!”

wieder daheim vom lärmenden Wochenmarkt angekommen, packten wir sogleich, die Einkaufstaschen aus. Ich natürlich in meiner eigenen Zeit. Da Sagte meine Mutter: “Mach mal ein bißchen schneller, sonst muss ich Dich gleich noch wecken!” In diesem Augenblick spürte ich den Engel des trostes ganz nah bei mir und er flüsterte ganz leise:
“Nina, sei ganz still. Bleib in Deiner Zeit. Es ist ganz allein Deine Zeit!”
Ich lauschte dem behutsamen Klang der Engelsbotschaft.
Plötzlich knallte die Tür, und der Wind streifte mein Haar.
“Nina, höre, ich kann Deine sorgenvollen Gedanken einfach aus Deinem Kopf wegpusten, mit mir nehmen und fort tragen.”, wenn Du es willst!” So sprach er zu mir. Ich hörte mich lachen, glucksend dann immer lauter und freier.
“Warum lachst Du?”, Mutter schüttelte verwirrt den Kopf. “Weißt Du Mutter, das war der wind, ich hab ihm grad zugehört, er hat mit mir gesprochen, ja, wirklich, mit mir gesprochen!” “Quatsch, der Wind kann überhaupt nicht sprechen. pack doch endlich weiter aus!“
“Mama, auch wenn Du’s nicht glaubst, der Wind hat wahrhaftig mit mir gesprochen, und der Engel, der hat mich auch getröstet.
und darum hab ich’s aufgeschrieben.
für Dich und die, die verstehen wollen, wie’s Menschen geht, die nicht so ganz dazu gehören.

(c) Nicole Schroll / Münster

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Der Wind und der Engel des Trostes

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Der Himmel ist offen

Der Himmel ist offen

Nicole Schroll – im Juni 2006

In Zeiten,
in denen Menschen keinen Optimismus
verbreiten.
Müssen wir uns klar machen –
der himmel ist offen.

in Zeiten von einsamkeit
sowie in Zeiten von Hass und streit.
Müssen wir uns klar machen –
der Himmel ist offen.

in zeiten der Ratlosigkeit
in zZeiten großer Traurigkeit
müssen wir uns klar machen –
der himmel ist offen.

zu allen Zeiten ist der Himmel offen,
und er wird es bleiben.

(c) Nicole Schroll / Münster

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Der Himmel ist offen

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Bahnhof

Bahnhof

Nicole Schroll – im März 1998

Ich hatte mal einen Religionslehrer, der sagte, dass man von vielen Gegenständen etwas lernen könnte. Hier möchte ich vorstellen, was mich der Bahnhof gelehrt hat.

Wachsamkeit

Ich lasse mich zum Gleis bringen oder laufe selber los. Du lehrst Wachsamkeit. Gehe ich in die falsche Richtung ist mein Zug abgefahren. Aufpassen muß ich, damit ich richtig aussteige, denn wenn ich sitzen bleibe, lande ich wohlmöglich auf dem Abstellgleis.

Anhalten

Du zeigst mir, daß man im Leben anhalten muß. Es gilt auf seine innere Stimme zu hören, die laut „Halt“ ruft. Hier ist es der Schaffner bzw. das Stellwerk, das „Halt“ angibt.
Manchmal brauche ich jemanden, der mir sagt: ,,Es ist genug für heute“.

Chaos aushalten

Züge werden aus verschiedenen Gründen umgeleitet. Chaos entsteht, wo man durch muß.

Nach einer Pfeife tanzen

Der Schaffner pfeift. Der Zug fährt ab. Im Chaos brauchte ich jemanden, nach dessen Pfeife ich getrost tanzen darf. Wichtig ist, daß man zu dem Pfeifer vertrauen hat.

Endstation

Das Ziel ist erreicht. Es ist wichtig zu wissen, wohin der Zug fährt. Schön, wenn man zufrieden ist, und sich ausruhen kann. Freunde warten auf mich, man ißt zusammen, plaudert und am nächsten Tag geht die Reise weiter.
Wieder „Bahnhof…“
Wieder „Wachsamkeit…“
Wieder „Anhalten…“
Wieder „Chaos aushalten….“
Wieder „Nach einer Pfeife tanzen…“
Wieder „Endstation….“

(c) Nicole Schroll / Münster

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Bahnhof

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Auf den Morgen warten

Auf den Morgen warten

Nicole Schroll

Ich warte auf den Morgen,
der nicht kommen will, still.

Ich warte auf den Morgen, der nicht kommen will, still.
über mir sind tausend Sterne.
Aber der Morgen, der liegt noch in weiter ferne.
Ich warte auf den Morgen,
der nicht kommen will, still.

(c) Nicole Schroll / Münster

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Auf den Morgen warten

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Louis Braille Gedenkschrift

Louis Braille

Susanne und Rolf Zacharias

Gedenkschrift zum 200. Geburtstag von Louis Braille (4. Januar 1809)

Wann hat sich wohl jemals die Wohltat eines Menschen für die Menschheit so erfolgversprechend, so segensreich ausgewirkt, wie die Idee des 6-Punkte-Systems von Louis Braille, die weder eine Erfindung noch eine Entdeckung war?

Die Erfindung des Buchdrucks um 1440 von Johann Gutenberg (eigentlich Johannes Gensfleisch zum Gutenberg) löste eine Revolution aus. Die Möglichkeit, Gedanken und Schriften auf einfache Weise zu vervielfältigen regte die Menschen an, sich über ihre Situation Gedanken zu machen. in der katholischen Kirche kam es zum Bruch. Es entstanden Abspaltungen wie z.B. der lutherischen Kirche am 31.10.1517 durch Martin Luther. Aber auch kam es zu Aufständen wie z. B. dem Bauernkrieg 1524 bis 1526.

Blinde waren aber von dieser Möglichkeit, sich zu informieren, ausgeschlossen, da sie ja nicht in der Lage waren, diese Schrift zu lesen. Erst Louis Braille (4. Januar 1809 – 6. Januar 1852) hat 1825 durch die Schaffung der Blindenschrift allen Blinden das Tor zur Bildung aufgestoßen und sie in die Lage versetzt, miteinander zu kommunizieren und Bücher zu lesen. Daher fand erst Mitte des 19. Jahrhunderts auch bei diesen gewissermaßen eine Revolution statt. Sie befreiten sich von der Fürsorge der Sehenden und begannen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

Louis Braille – sein Leben und Wirken

Louis Braille wurde am 4. Januar 1809 in Coupvray Département Seine-et-Marne 35 km südöstlich von Paris, als Sohn eines Sattlermeisters geboren. Er war 3 Jahre alt, als er in der Werkstatt seines Vaters in einem unbeobachteten Augenblick ein scharfes Sattlermesser ergriff und versuchte, damit ein Stück Leder zu bearbeiten. Dabei verletzte er sich ein Auge, das sich schnell entzündete. Da die medizinische Wissenschaft, besonders die Augenheilkunde, noch keineswegs so weit fortgeschritten war, daß solche Verletzungen mit dem Ziel der Erhaltung eines Augenlichtrestes oder, wie in diesem Fall, eines Auges, behandelt werden konnten, erblindete er auf diesem Auge. Bekanntlich wird bei solchen Verletzungen in sehr vielen Fällen das zweite Auge in Mitleidenschaft gezogen. So auch bei dem kleinen Louis, so daß er zwei Jahre später völlig erblindete.

Dorflehrer und Pfarrer erkannten sehr bald, wie begabt Louis war. Seine Bildung blieb jedoch darauf beschränkt, im Gedächtnis zu behalten, was ihm seine Lehrer an Wissen vermittelten. Sein Vater sann auf Abhilfe und schlug in ein Brett Polsternägel, die die Buchstaben des lateinischen Alphabetes darstellten. Diese erfühlte Louis mit den Fingern und entzifferte auf diese Weise das für ihn bisher so geheimnisvolle Alphabet der Sehenden. Diese erhöhten Köpfe der Nägel – waren sie nicht schon die Vorläufer der Blindenschrift?

Am 15. Januar 1819 wurde Louis mit 10 Jahren in das königliche Blindeninstitut für Blinde in Paris, das 1784 von Valentin Haüy gegründet wurde, aufgenommen. Die dortigen Räumlichkeiten waren klein, dunkel und feucht, so daß sein späteres Lungenleiden wohl auf diese Verhältnisse zurückzuführen war. Zunächst fiel Louis durch seine besonderen handwerklichen, musischen und geistigen Fähigkeiten auf. Louis war von Anfang an ein aufmerksamer und guter Schüler und erhielt für seinen Fleiß Auszeichnungen und Preise.

Für den Musikunterricht zeigte Louis besonderes Interesse und wurde am Piano, Generalbass sowie an der Orgel ausgebildet. Später besuchte er Vorlesungen an öffentlichen Schulen.

Als Unterrichtsmaterial wurden in Blei gegossene Lettern verwandt, die jeweils zu Wörtern zusammengestellt und in dickes Papier gedrückt wurden. Auch gab es ein einziges Buch, das auf dickem Papier eingestanzte Schriftzeichen besaß. Louis und seinen Mitschülern ging es einfach auf den Geist, dass sie sich mit dieser Reliefschrift rumplagen mussten, die zwar die Lehrer ausgezeichnet lesen konnten, den Schülern aber viel Mühe machte.

Im Laufe der Zeit hatten sich kluge Männer und Frauen in anderen europäischen Ländern mit dem Gedanken befasst, eine erhabene Schrift für Blinde zu ersinnen. Alle dienten sie dem Prinzip, den Blinden, namentlich der blinden Jugend, das Lesen und Schreiben zu lehren, damit sie sich allgemeine Kenntnisse und Bildung aneignen konnten. Eine für Blinde brauchbare lesbare Schrift war jedoch noch nicht entwickelt bzw. hatte sich noch nicht durchgesetzt. Die Zeit war noch nicht reif und die Stunde noch nicht gekommen, obwohl sich namentlich intellektuelle Blinde autodidaktisch mit der Lösung dieses Problems befassten. Erwähnt seien u.a. Johann Gottlieb Knie in Breslau mit seiner Stachelschrift, das sich aus großen lateinischen Buchstaben zusammensetzende Stuttgarter System sowie die fortschrittliche und brauchbare Blindenschrift von William Moon, England. Vorläufer der Blindenschrift waren die aus Punkten und Strichen bestehenden fühlbaren Zeichen, die der Jesuit Francesco Larna-Anesci 1670 in einem Werk für die Blinden zusammenstellte. Angaben über das Schreibgerät sind nicht überliefert.

Louis stellte Überlegungen an, wie man als Blinder sich auch etwas aufschreiben könnte. Er hatte wahrscheinlich keine Informationen darüber, daß es bereits in früheren Jahren eine Art Blindenschrift gegeben haben muß.

Er kam mit einem Schriftsystem in Berührung, an dessen Entwicklung der französische Artilleriehauptmann Charles Barbier (1767 – 1841) seit 1815 arbeitete. Barbier entwarf ein sonarisches Alphabet, welches die 36 Grundlaute der französischen Sprache durch verschiedene Gruppierungen der Punkte darstellte. Es bestand aus 11 Punkten (einige Quellen sprechen von 12 Punkten) und sollte für Soldaten die Nachrichtenübermittlung auch im Dunkeln ermöglichen. Hölzerne Tafeln sowie Lineale wurden konstruiert, um das Schreiben dieser Zeichen mittels eines Stichels auf dickerem Papier zu ermöglichen. Dieses System war vom Grundsatz her nicht falsch gedacht, doch wies es eine Reihe von Unzulänglichkeiten auf. Vor allen Dingen benötigte es sehr viel Platz.

Louis erkannte, daß man mit dieser Schrift Sinnvolleres tun könnte, daß es dafür aber notwendig wäre, sie zu vereinfachen und zu verbessern.

Er schöpfte hieraus die Idee zu seinem einfachen und praktischen System. Nach jahrelangem Bemühen erdachte er im Oktober 1825 die geniale Blindenschrift, die aus sechs Punkten besteht. Dadurch sind 63 Buchstaben und Zeichen möglich. Sie war dem lesenden Finger angepaßt und auch für die mathematischen Zeichen sowie für die musikalischen Notationen geeignet. Nun war die Punktschrift grundsätzlich zwar fertig, aber wie es mit fast allen Neuerungen bestellt ist, Zustimmung und Ablehnung, Kritik usw. erschwerten die praktische Einführung und Erprobung im Blindenschulunterricht des Pariser Instituts. Bei den Mitschülern fand diese Schrift viel Anklang, die Lehrer aber wollten davon nichts wissen, Sie fühlten sich offenbar plötzlich in ihrer Würde angegriffen, denn nun konnten sie nicht mehr lesen, was die Schüler da so ins Papier stichelten. Sie hätten es ja lernen können, aber damals waren die Lehrer eben sehr borniert und ließen neue Ideen nicht zu.

Die Brailleschrift besteht aus 6 Punkten gleich 63 Kombinationen nach der Formel 2 hoch 6 minus 1 gleich 63 plus Grundform. Die Punkte sind wie bei der sechs auf einem Würfel angeordnet. Die Zeichen sind leicht erlernbar, lassen sich rasch und sicher lesen und mit Schreibtafeln und Griffel mühelos schreiben.

Schon bald erkannte man die weltweite Bedeutung seines Blindenalphabetes, und es begann ein neues Zeitalter der Blindenbildung, auch wenn die offizielle Anerkennung jahrzehntelang ausblieb. Aber die Freunde Louis Brailles und seine Schüler verwendeten die sechs Punkte weiter und bewiesen ihren praktischen Nutzen durch höhere Leistungen in Unterricht. Dennoch wurde das Blindenschrift-Alphabet von der pädagogischen Akademie Frankreichs erst im Jahre 1850 offiziell anerkannt und in Paris eingeführt.

Bedeutsam und erwähnenswert hierbei ist der Umstand, daß die internationale intelligente und selbstbewusste Blindenschaft eindeutig erkannte, daß es sich bei der Methode von Louis Braille um eine einmalige, nur mit der Gutenberg-Erfindung vergleichbare Geistesrevolution handelte. Besonders im deutschsprachigen Raum wurde das 6-Punkte-System durch unmittelbares Einwirken von Person zu Person unter den Blinden propagiert, was nicht zuletzt dazu beitrug, Einfluss auf die Französische Akademie und das Pariser Blindeninstitut auszuüben.

Hierbei ist wiederum als Pionier besonders ein deutscher Intellektueller, der Blinde Friedrich Scherer, lobend zu erwähnen. Scherer war auch einer der ersten nach Louis Braille, der das 6-Punkte-System als ganz probate Eignung für eine Blindennotenschrift erkannte und propagierte; nicht zuletzt deshalb, weil er wie Louis Braille auch blinder Musiker und Musikpädagoge war.

Langsam, ganz langsam, sehr langsam, stimmte die Blindenlehrerschaft, und zwar durchaus nicht geschlossen und nicht von vornherein, der Einführung des 6-Punkte-Alphabets zu. Es klingt unglaublich, entspricht aber leider der Wahrheit, daß Einwände erhoben wurden, die völlig abwegig, völlig unsinnig und bar jeden Fortschritts waren, wie beispielsweise: „Die neue Schrift könnte geeignet sein, auch nichtreligiöse Bücher zu drucken, und vor allen Dingen der Braille‘sche Druck könnte sich sogar als probates Mittel erweisen, der sexuellen Aufklärung der Blinden zu dienen“.

Nun, traurige Tatsache ist, daß Louis Braille, der große und einmalige Philanthrop der Blinden der ganzen Welt, die verdiente, weltweite Verbreitung seines Blindenschriftsystems nicht mehr erlebt hat. Sichtbar verbreitete sich das 6-Punkte-System erst, nachdem insbesondere Friedrich Scherer während des ersten Blindenlehrerkongresses 1873 in Wien die Annahme von Resolutionen seitens der deutschen Blindenlehrer erreichte, wonach die Blindenschrift in allen Blindenlehrinstituten obligatorisch einzuführen sei.

An der Blindenschule in Hamburg wurde die Schrift erst 1889 eingeführt.

Am 1. 11. 1890 veröffentlichte der Blindenlehrer Kuraji Ishikawa (Tokio) die Entwicklung einer japanischen Brailleschrift.

Erstmals war das Braille-System im Jahre 1827 für Auszüge aus dem Lehrbuch “La grammaire des grammaires” verwendet worden. Zwei Jahre später erschien ein von Louis Braille selbst verfasster Bericht über die neue Methode zur Übertragung von Buchstaben und Noten in Punktschrift unter dem Titel “Verfahren, um Wörter, Musik und Kirchengesang zu schreiben mit Hilfe von Punkten, zum Gebrauch der Blinden und für sie zusammengestellt von Louis Braille, Blindenlehrer am Königlichen Institut für junge Blinde in Paris”. Dieses 32 Seiten umfassende Werk war zwar noch im üblichen Reliefdruck verfasst; aber auf den Seiten 14 bis 16 enthielt es eine Tafel mit dem Alphabet und eine Anleitung zum Schreiben mit Tafel und Griffel.

Seine bereits im jugendlichen Alter von seinen Lehrern erkannte hohe Intelligenz, Fähigkeit und Begabung führten dazu, daß man Louis Braille, der inzwischen ein junger Mann geworden war und der sich als Autodidakt sowie durch Unterricht bei namhaften Pädagogen für Musik, Sprache und Literatur die entsprechenden Kenntnisse erworben hatte, 1828 als Hilfslehrer einstellte. Zeitgenossen und der Kreis seiner ehemaligen Schüler berichteten übereinstimmend, daß er die notwendige Disziplin durch gütige Strenge und durch seine bewundernswerte Haltung im Unterricht erreichte. Eine seiner Neigungen war die Herstellung von leicht fasslichen Lehrmitteln, um sie im Unterricht dann mit dem Ziel praktischer Resultate zu verwenden.

1833 wurde er auf Empfehlung des Direktors zum Lehrer am Institut für Blinde ernannt. In demselben Jahr hatte er seine Ausbildung zum Organisten abgeschlossen. Die sich mehr und mehr auswirkende Tuberkulose zwang ihn dazu, seine berufliche Tätigkeit einzuschränken.

1834 wurde es Louis Braille ermöglicht, auf einer Gewerbeausstellung in Paris seine Blindenschrift der Öffentlichkeit vorzustellen. Es liegt ein tiefer Sinn darin, daß ein Betroffener für seine Schicksalsgefährten die Blindenschrift erdachte, um sie so aus der geistigen Bevormundung zu befreien und die Hilfe zur Selbsthilfe zu begründen.

Aufgrund einer Eingabe an die Deputiertenkammer wurde 1843 der Neubau des Institutes für Blinde in Paris fertiggestellt mit der Begründung, daß das Geld des Haushalts niemals besser verwandt sei, als den Geist derer zu fördern, denen die Natur den kostbarsten aller Sinne geraubt hat.

Anfang Januar 1852, als Louis Braille auf dem Sterbebett lag, erschien ein Staatsrat im Auftrage der Regierung, um ihm das Kreuz der Ehrenlegion – die höchste Auszeichnung seines Vaterlandes – zu überreichen. Am 6. Januar 1852 verstarb Louis Braille im Alter von 43 Jahren an seinem Lungenleiden. In den 30 Jahren seines Wirkens hat er mehr für seine Schicksalsgefährten getan, als es Jahrhunderte vorher Fürsorge und Almosen vermochten. Den weltweiten Siegeszug seiner Schrift hat er nicht mehr erleben können.

Es ist übermittelt, dies scheint erwähnenswert, daß er in seinem Testament seine Ersparnisse, bestehend aus Haus- und Grundbesitz und bescheidenen Barbeständen, seiner Mutter, seinen Geschwistern und seinen Freunden und Schülern vermachte.

Dem Beschluss seiner Freunde und Schüler, ihm ein Denkmal zu setzen, kam in Würdigung der endlich erkannten Bedeutung Louis Braille‘s der Staat zuvor und setzte ihm an geeigneter und auffallender Stelle des Blindeninstituts eine Büste, die durch den Innenminister in Anwesenheit zahlreicher Lehrer, Schüler und Mitarbeiter des Blindeninstituts am 25. Mai 1853 in einer Feierstunde eingeweiht wurde.

Was Louis Braille für die Blinden der Welt mit seinem einfachen, aber genialen System geleistet hat, steht nicht zurück hinter den Entdeckungen und Erfindungen der ganz großen Geister aller Wissensgebiete unserer Welt und ging ein in die Geschichte.

Es nimmt daher nicht Wunder wenn nach 150 Jahren der Verwirklichung des Braille-Systems und anlässlich des einhundertjährigen Todestages von Louis Braille in allen zivilisierten Ländern Gedenkfeiern stattfanden, die Idee und Wert Louis Braille‘s gebührend würdigten. Auch wurde ihm die höchste nationale Ehre eines großen Franzosen zuteil, denn am 21. Juni 1952 erfolgte unter der Teilnahme des französischen Staatspräsidenten und seiner Regierung sowie der Spitzen der Behörden, der Kunst, der Wissenschaft und der Kirchen und vor allen Dingen der Blinden aller Kulturnationen die feierliche Überführung ins Pantheon – ähnlich der Galerie der großen Deutschen in der Ruhmeshalle “Walhalla” bei Regensburg – statt.

An seinem Geburtshaus wurde 1952 anläßlich seines 100. Todestages eine Gedenktafel mit der Inschrift angebracht: “Louis Braillle, der Erfinder der Schrift in erhöhten Punkten für die Blinden. Er hat allen, die nicht sehen, die Pforten des Wissens geöffnet.”

Geschrieben wird die Blindenschrift entweder mit Tafeln oder Maschinen.

Die Punktschrift-Tafel besteht aus einem Gitter mit rechteckigen Löchern für jedes Punktschriftfeld, das über einer Platte mit einer Vertiefung für jeden Punkt liegt. Mit einem Stift werden die gewünschten Punktformen spiegelbildlich in die Vertiefungen gedrückt. Geschrieben wird von rechts nach links. Nach dem Herausnehmen des Papiers muß dieses gedreht werden, um es von links nach rechts lesen zu können. Dieses Verfahren hat bereits Louis Braile entwickelt. Ein Gegenprinzip ist die Positiv-Tafel, bei der man mit einem hohlen Stift das Papier über einen Punkt auf der Bodenplatte stülpt und so prägt. Hier schreibt man natürlich von links nach rechts. Nach dem Herausnehmen muß das Papier nicht gedreht werden.

Um schneller schreiben zu können, sind verschiedene Maschinen entwickelt worden. Man unterscheidet hier zwischen Bogenmaschinen zum Anfertigen von Schriftstücken auf Papier oder Folie und Streifenschreibern zum Mitstenographieren.

Es gibt zwei Grundtypen von Punktschrift-Bogenmaschinen. Zum einen ist es der Picht-Typ, bei dem das Prägewerk feststeht und der Wagen sich mit dem Papierbogen seitlich bewegt (seit etwa 1920). In Deutschland sind zum Jahrtausendwechsel 3 unterschiedliche Fabrikate erhältlich:

Marburger Bogenmaschine – Herstellung in Peking.
Vertrieb Brailletec gGmbH, Marburg – Preis: ca. 300 Euro.
Erika-Picht, verfügbar für 6 oder 8 Punkte – . Herstellung, wenn überhaupt, in Bayern. Vertrieb: Landeshilfsmittelzentrum des Blinden- und Sehbehindertenverein Sachsen (BSVS) in Dresden – Preis etwa 300 bis 400 Euro.
Tatra-Braille – Herstellung in der Slowakei. Vertrieb Brailletec gGmbH (s.o.) – Preis etwa 300 Euro.

Zum anderen ist es der Perkins-Typ, bei dem Papierbogen und sein Aufrollmechanismus sich nicht seitlich bewegen, dafür aber der Prägekopf (seit etwa 1960). Dieser Typ wird von zwei Grundkonstruktionen – im deutschen Markt – beherrscht:
1. Perkins Brailler, 6 Punkte – Herstellung:
a) in einem englischen Gefängnis im Auftrag des RNIB (englisches Blindeninstitut), der aber nur eine Subvention für Blinde in Großbritanien zuschießt.
b) in Indien. Die Produktionsqualität schwankte in den letzten Jahren stark. Vertrieb: VzFB Hannover – Preis gut 800 Euro.
2. Eurotype, 6 Punkte. komfortabelste mechanische Bogenmaschine. Hersteller: Brailletec in Marburg. Vertrieb: Brailletec Marburg (s.o.) und VzFb Hannover (s.o.). Preis etwa 900 Euro.

Inzwischen gibt es nicht nur mechanische, sondern auch elektrische bzw. elektronische Bogenmaschinen:
1. Eurotype-E, elektronische Version der mechanischen Eurotype, 6 und 8 Punkte. Hersteller: Brailletec in Marburg Vertrieb durch Brailletec und VzFb- Preis etwa 1300 Euro.
2. Elotype 4, 6 und 8 Punkte Elektronische Punktschriftmaschine und einseitiger Braille-Drucker auf Einzelbögen und Endlospapier. Parallel- und Seriell-Schnittstellen. Hersteller: Brailletec Vertrieb: Brailletec und VzFB – Preis etwa 2000 Euro.
3. Elotype 4E: Wie Elotype 4, jedoch zusätzlich mit Ringbetrieb für Schulen, Textspeicher, Umformatierungsprogramm und hervorragendem Grafik-Betrieb. Hersteller: Brailletec Vertrieb: Brailletec und VzFB – Preis etwa 2200 Euro.

Der Weltmarkt hat noch ein breiteres Angebot, vom dem sich in Deutschland nur Obige durchgesetzt haben.

Bei den Streifenschreibern läuft ein Papierstreifen von 12 bis 20 mm Breite und 10 bis 30 Meter Länge durch ein Prägewerk (seit etwa 1930). Mit diesen Maschinen lassen sich mühelos 120 Worte pro Minute mitstenographieren. Gute Schreiber erreichen durchaus auch 180 Worte pro Minute.

Um einerseits die Schreib- und Lesegeschwindigkeit zu erhöhen und andererseits den Umfang der Blindenschrifttexte zu reduzieren, verwenden heute viele Blinde eine verkürzte Schrift, die sog. Blindenkurzschrift. Dabei werden ganze Wörter oder Teile von Wörtern (z. B. Vor- und Nachsilben, Wortstämme usw.) durch ein oder zwei Blindenschriftzeichen dargestellt. Einige Zeichen haben in der Blindenkurzschrift eine andere Bedeutung als in der Blindenvollschrift. Verglichen mit dem gleichen Text in Blindenvollschrift reduziert sich die Anzahl der Zeichen im Blindenkurzschrifttext – je nach Kürzungsmöglichkeit – um bis zu 40 %.

Die ersten Anfänge der Blindenkurzschrift gehen ins Jahr 1871 zurück. Auf dem Blindenlehrerkongress zu Amsterdam 1885 wurde das modifizierte System als deutsche Blindenkurzschrift angenommen. 1904 wurde die endgültige Fassung der Blindenkurzschrift auf dem Blindenlehrerkongress in Halle an der Saale verabschiedet. 1906 wurde das Regelbuch und Wörterverzeichnis zur deutschen Blindenkurzschrift in Schwarz- und Punktschrift durch den Verein zur Förderung der Blindenbildung (VzFB) herausgegeben. Auf dem 3. Kongress für Blindenwohlfahrt und 18. Blindenlehrerkongress in Nürnberg vom 30. Juli bis 3. August 1930 werden der systematische Leitfaden zum Gebrauch der deutschen Blindenkurzschrift von Herrn Prof. Dr. Carl Strehl und das internationale Musikschriftsystem angenommen. Die Kommission unter der Leitung von Dr. Freundt beschließt 1969 die Vereinfachung des Regelwerkes der deutschen Blindenkurzschrift. Es entsteht die reformierte deutsche Blindenkurzschrift. (endgültige Fassung 1971). Ab Mai 1972 erscheinen Bücher und Zeitschriften in reformierter deutscher Blindenkurzschrift. Der 27. Blindenlehrerkongress in Wien beschließt 1973 folgende Resolution: “Einführung der reformierten deutschen Blindenkurzschrift in allen Blindeneinrichtungen des deutschsprachigen Raumes”. Am 30. Januar 1998 beschließt die Brailleschriftkommission deutschsprachiger Länder in Wien die Anpassung der Übertragungsregeln für Voll- und Kurzschrift in herkömmlicher und reformierter Rechtschreibung an die geänderten Erfordernisse.

Heute ist die Brailleschrift weltweit verbreitet und eröffnet blinden Menschen das Tor zur Bildung, Information und Selbständigkeit. Die 1825 entwickelte Brailleschrift bleibt auch im multimedialen Zeitalter modern. Alle Schriften dieser Welt, seien es lateinische, kyrillische, arabische, japanische oder chinesische Schriftzeichen, werden mit dieser einen Schrift für Blinde lesbar gemacht. Sie hat sich bis in die letzten Winkel dieser Erde durchgesetzt!

(c) Susanne und Rolf Zacharias / Hamburg

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Louis Braille

BLAutor – Arbeitskreis blinder und sehbehinderter Autoren – www.blautor.de

Klappentext

Klappentext

Susanne und Rolf Zacharias

2009 ist das Jubiläumsjahr der sehbehinderten und blinden Menschen in Hamburg. Am 4. Januar vor 200 Jahren wurde Louis Braille geboren und vor 100 Jahren der Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg gegründet.

Die Erfindung des Buchdrucks um 1440 von Johann Gutenberg löste eine Revolution aus. Die Möglichkeit, Gedanken und Schriften auf einfache Weise zu vervielfältigen, regte die Menschen an, sich über ihre Situation Gedanken zu machen. In der katholischen Kirche kam es zum Bruch. Es entstanden Abspaltungen wie z. B. der lutherischen Kirche am 31.10.1517 durch Martin Luther. Es kam aber auch zu Aufständen wie z. B. dem Bauernkrieg 1524 – 1526.

Blinde waren von der Möglichkeit ausgeschlossen, sich zu informieren, da sie nicht in der Lage waren, gedruckte Schrift zu lesen. Erst Louis Braille (4. Januar 1809 – 6. Januar 1852) hat 1825 durch die Schaffung der Blindenschrift allen Blinden das Tor zur Bildung aufgestoßen und sie in die Lage versetzt, miteinander zu kommunizieren und Bücher zu lesen. Daher fand erst Mitte des 19. Jahrhunderts auch bei den Blinden gewissermaßen eine Revolution statt. Sie befreiten sich von der Fürsorge der Sehenden und begannen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

Aus dieser Situation heraus mussten sich die Blinden von Abhängigkeiten vielfacher Art freimachen. Dieses stellen die Autoren Rolf und Susanne Zacharias in ihrem Buch in kurzen Zügen vor. Im ersten Teil wird die Entwicklung von der Fürsorge bis zur Selbständigkeit der Blinden in Hamburg in gestraffter Form aufgezeigt. Anschließend folgt eine ausführliche, umfangreiche Datentafel.

(c) Susanne und Rolf Zacharias / Hamburg

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Klappentext

BLAutor – Arbeitskreis blinder und sehbehinderter Autoren – www.blautor.de

Die Entwicklung der Blindenselbsthilfe in Hamburg von den Anfängen bis heute (Leseprobe)

Die Entwicklung der Blindenselbsthilfe in Hamburg von den Anfängen bis heute

(LESEPROBE)

Susanne und Rolf Zacharias

Die Blinden galten bis Ende des 18. Jahrhunderts allgemein als bildungs- und erwerbsunfähig. Man kannte eigentlich keinerlei Mittel, ihre geistigen und physischen Kräfte zweckmäßig zu fördern. Sie fristeten ihr Dasein zumeist als Bettler, Hausierer oder Straßensänger…

1831

Die “Hamburger Blindenanstalt von 1830” hatte sich zur Aufgabe gestellt, eine Lehranstalt für Blinde zu errichten. Der Musiklehrer Prof. Dr. Jülich sowie der Hauptpastor Dr. Wolff an der Hauptkirche St. Katharinen begannen im Juli 1831 mit der Beschulung von 9 Kindern im Alter zwischen 7 und 14 Jahren…

Langsam, ganz langsam, sehr langsam, stimmte die Blindenlehrerschaft, und zwar durchaus nicht geschlossen und nicht von vornherein, der Einführung des 6-Punkte-Alphabets zu. Es klingt unglaublich, entspricht aber leider der Wahrheit, dass Einwände erhoben wurden, die völlig abwegig, völlig unsinnig und bar jeden Fortschritts waren, wie beispielsweise: „Die neue Schrift könnte geeignet sein, auch nichtreligiöse Bücher zu drucken, und vor allen Dingen der Braille‘sche Druck könnte sich sogar als probates Mittel erweisen, der sexuellen Aufklärung der Blinden zu dienen“. Erst 1879 beschloss der Blindenlehrerkongress in Berlin die Einführung der Brailleschrift an den deutschen Blindenschulen…

1872 kam es in Hamburg beispielhaft für ganz Deutschland zur Gründung der ersten Blindengenossenschaft. Bedeutsam und zukunftsweisend an der Blindengenossenschaft von 1872 war, dass blinde Menschen ihre beruflichen und allgemein menschlichen Interessen erstmalig in organisierter Form selbst vertraten…

1890

Mit der Braille-Blindenschrift, insbesondere der Kurzschrift, hatten die Blinden endlich das Mittel in der Hand, auch überregionalen Gedankenaustausch zu pflegen…

Seit 1886 sammelte der blinde Organist Johannes Nathan (7.2.1857 – 28.3.1921) (Kreuzkirche zu Barmbeck) die Anschriften erwachsener, im Leben stehender Blinder im deutschsprachigen Raum (Deutschland, Österreich / Ungarn und der Schweiz). Im November 1890 versandte er einen Aufruf an etwa 40 Blinde, in dem er zur Bildung eines Vereins der Blinden deutscher Zunge aufforderte,…

1909

1909 kam es zur Gründung des heutigen Blinden- und Sehbehindertenvereins, des ersten, nur von Blinden getragenen Selbsthilfevereins in unserer Stadt…

1921

Der RBV und die angeschlossenen Ortsvereine sahen eine ihrer Hauptaufgaben in der Organisierung der Erholungsfürsorge. … Anfang 1921 erwarb der RBV das Hotel “Marienlust” am Timmendorfer Strand und gab ihm den Namen “Deutsches Haus”, das heutige “Aura-Hotel Alfons-Gottwald”, mit 21 Zimmern für 40 Gäste…

1925

Die materielle Not der Blinden war nach dem Ende des 1. Weltkrieges be­sonders groß. Ihre Arbeits- und Berufsmöglichkeiten waren außerordentlich gering. So schlossen sich die Handwerker im “Verein der Blinden von Hamburg und Umgebung e. V.” schon 1919 zu Fachgruppen zusammen… Zu den “Hamburger Blinden-Anstalten von 1830” unterhielt der Verein nur lockere Beziehungen; denn die Bestrebungen des Blindenvereins wurden in der Anstalt keineswegs verwirklicht. Um blinden Handwerkern außerhalb der Anstalt bessere Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten zu bieten, lud der “Verein der Blinden von Hamburg und Umgebung e. V.” Ende 1925 zwecks Gründung der “Blindenerwerbsgenossenschaft Hansa eGmbH” zu einer Versammlung ein…

1933-1945

Der politische Umschwung 1933 hob die demokratische Ordnung auf und davon wurde auch die Struktur des “Vereins der Blinden von Hamburg und Umgebung e v.” betroffen. Es galt nunmehr das Führer­prinzip und anstelle der Selbstbestimmung und der persönlichen Auseinandersetzung trat das Be­fehls- und Anordnungssystem. Es waren Bestrebungen im Gange, die Blindenorganisationen aufzulösen und die Interessen und Belange ihrer Mitglieder durch die Nationalsozialisten wahrnehmen zu lassen…

1952

Da sich bei weitem nicht jeder Blinde eine Urlaubsreise erlauben konnte, baute der “Blindenverein für Hamburg und Umgebung e. V.” ein eigenes kleines Erholungsheim am Timmendorfer Strand in der Kastanienallee…

CHRONOLOGIE

1227 – Das Heiliggeisthospital am Rödingsmarkt nimmt sich alter und gebrechlicher Blinder an.

1806 – 13. Oktober Gründung der ersten Blindenschule in Deutschland in Berlin Mitte, Gipsstraße 11, durch Johann August Zeune…

1862 – 10. Mai Gründung einer Blindenanstalt in Kiel für das Herzogtum Holstein.

1866 – Erscheinen der ersten Blindenschriftbücher in Deutschland (Johannes-Evangelium, Märchen)

1897 – Gründung des Punktschriftdruckverlages von Franz Walther Vogel in der Hufnerstrasse 122 – 124 in Hamburg 33. Es war der erste Verlag, der sich von vorn herein ausschließlich der Kurzschrift zuwandte. Er veröffentlichte überwiegend Noten und trug somit zur Bildung der blinden Musiker bei.

1900 – Der selbst blinde Dr. Sommer richtet in Bergedorf in der Bergstraße (heute August-Bebel-Straße) ein Pensionat für Blinde der bessergestellten Stände ein, das bis ca. 1915 bestand.

1905 – 19. März Gründung der Centralbibliothek für Blinde Hamburg…

1912 – 22. bis 25. Juli: Zweiter Blindentag in Braunschweig. Auf Initiative von Franz Walter Vogel aus Hamburg Gründung des Reichsdeutschen Blindenverbandes (RBV) (heute Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e. V)…

1926 – Einführung der gelben Armbinde mit drei schwarzen Punkten als Verkehrsschutzzeichen (sowohl für Taubstumme als auch für Blinde).

1943 – 28. Juli Das Haus der “Blindengenossenschaft Hansa” in der Schröderstraße 4, in dem auch der „Blindenverein Gau Hamburg e. V.” seine Geschäftsstelle unterhielt, fällt den Bomben des 2. Weltkrieges zum Opfer.

1949 – In der Schule für Blinde und Sehschwache Hamburg werden versuchsweise Schüler zu Stenotypisten ausgebildet.

1950 – Aus einer Villenruine in der Wagnerstraße 42 wird das Vereinshaus des „Blindenvereins für Hamburg und Umgebung e. V.“ aufgebaut, in der auch eine Geschäftsstelle eingerichtet wurde.

1953 – Auf dem Eckgrundstück Minenstraße / Stiftstraße in Hamburg St. Georg entstehen neue Gebäude der “Blindenanstalten von 1830” mit Wohnheim mit 80 abgeschlossenen Wohnungen,…

1958 – 27. Juni Gründung der “Norddeutschen Hörbücherei” (NBH) unter Beteiligung der vier norddeutschen Küstenländer Hamburg, Bremen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein.

1965 – Die Blinden- und Sehbehindertenschule in Hamburg erhält einen Schulkindergarten für schulpflichtige, aber noch nicht schulreife Kinder…

1969 – 17. Oktober Einweihung des Kulturzentrums des BVH in Lurup.

1970 – Mit dem Optacon steht das erste Gerät, das Blinden das Lesen von gedruckter Schrift ermöglicht, zur Verfügung.

1979 – 1. Oktober Eröffnung des Instituts für Rehabilitation Integration Sehgeschädigter (IRIS) durch das Ehepaar Pamela und Dennis Corry in Hamburg in der Sierichstrasse 56.

1985 – 3. August Eröffnung des umgebauten “Alfons-Gottwald-Hauses”.

1989 – 4. Januar Einweihung des Louis-Braille-Hauses – Zentrum der Blindenselbsthilfe des BVH…

2009 – 4. Januar Anlässlich des 200. Geburtstages von Louis Braille wird der Bahnhofsvorplatz vor der U-Bahnstation “Hamburger Strasse” nach ihm benannt.

(c) Susanne und Rolf Zacharias / Hamburg

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LESEPROBE

Die Entwicklung der Blindenselbsthilfe in Hamburg von den Anfängen bis heute

BLAutor – Arbeitskreis blinder und sehbehinderter Autoren – www.blautor.de

Achtundachtzig Blütenblätter für Gertrud

Achtundachtzig Blütenblätter für Gertrud

Paula Grimm

Der Sommer setzte Lebendes nicht mit flirrender Hitze unter Druck. Der Julihimmel hielt sich bedeckt. Aber es regnete nicht.
“Guten Tag, Daggi!”
“Herzliches Beileid auch dir, Daggi!”
“Wie geht es dir sonst so, Daggi?”
“Hallo, bald hätte ich dich übersehen, Daggi!”
Und Daggi, wie es aus aller Munde kam, hatte wie eh und je diesen falschen verniedlichenden Klang. Es waren viele Leute zu begrüßen, Beileidsbekundungen entgegen zu nehmen und vor allem Hände zu schütteln. Weil das seine Zeit brauchte, verwehte plötzlich der Kindheitsgeruch nach Haferschleim und Zitrusspülmittel die aktuellen In-Düfte der Parfüms, Deos und Aftershaves. Und die Großmutter sagte in ihrem Singsangdialekt von weiter rheinaufwärts, der immer gleichermaßen schimpfend und jammernd klang:
“Jib’ dat schöne Händsche, Daggi!”
Dieser und andere Sätze in diesem Zungenschlag waren seit dreißig Jahren eigentlich verstummt. Doch zu Zeiten häufig ausgesprochen blieben sie ohne Sinn im Verstand und in der Familie, bis der Letzte, dem sie zu Lebzeiten zu Ohren gekommen waren, gestorben sein würde. So oft ungefragt die Ratschläge erteilt worden waren, so oft sie geklagt, verurteilt und geprahlt hatte, Niemand konnte und mochte diese jammernde Schimpferei imitieren. Jeder bekam die rechte Hand und einen Gruß und Dank in der hiesigen raueren sprachweise. Und die Rechte war wie di Linke und wie die Füße klein geraten und wieder einmal durch Macken an den Nagelbetten und einen Riss an der Daumenwurzel nicht das schöne Händchen.
“Wenigstens muss erst mal nicht gewinkt werden. Dabei verpasse ich wohl immer noch den Einsatz, weil ein Abschiedswort noch lange keinen Abschiedsblick und keine Kehrtwende zum Gehen ist, blinde Kuh.”

“Es geht los, Daggi!” sagte Martha, die Älteste von den fünf, die Gertrud geboren hatte. “Also bei ihr unterhaken!” gedacht, nichts gesagt aber getan.
Der Weg zu dem Bereich für die anonymen Grabstätten war, wie man so sagt, ein gutes Stück Weg.
“Gehen hilft immer irgendwie!”
Martha unterhielt sich gedämpft mit Leuten, die vor und hinter ihr gingen. Und darum musste sie nicht Daggi sagen. So war es zumindest leicht, den eigenen Gedanken nachzugehen. – “Gehen hilft immer irgendwie!”
“Gertrud war wie Martha die Älteste zu Hause. – Zu Hause in Ostpreußen. – Zu Hause an der Bahnstrecke, wo abends dann irgendwann nicht mehr nur die Güterzüge und Viehtransporte nach Osten rollten. – Zu Hause, wo dann irgendwann auf den Güter- und Viehwagons Menschen Nach Osten abgeschoben wurden. – Zu Hause, wo dann noch später mit Menschen überladene Züge nach westen fuhren. – Zu Hause, von wo sich Gertrud dann ohne den Vater aber mit den Großeltern zu Fuß in den ungewissen Westen aufgemacht hatte. Und die beiden Kleinen, Renate und Oskar, waren auf der Strecke geblieben. – Gertrud war die einzige gewesen, die meistens Dagmar gesagt hatte. – voller Stolz, weil sie sich in diesem Fall gegen ihren Mann und ihre Schwiegermutter durchgesetzt hatte. Anders war es bei Martha.” Sie hieß wie die Jugendfreundin des Vaters. Martha empfand es als eine Zurücksetzung so zu heißen wie jemand, der im Alter von Anfang zwanzig tödlich mit dem Auto verunglückt war. Und Martha empfand es mit Mitte vierzig immer noch beleidigend, dass Dagmar Dagmar, also taghell, hieß.
“Es ist absourd jemanden taghell zu nennen, der im dunkelsten Winter geboren ist, und der nie gesehen hat und nie sehen wird, was taghell ist.”
“Und selbst, wenn das stimmte, gab es keinen triftigen Grund dafür der Namensgeberin und der Trägerin des Namens den Klang wegzunehmen und lebenslänglich mit diesem falschen und verniedlichenden Ton Daggi zu sagen.”

Schließlich erreichten sie den Platz, an dem Gertruds Urne beigesetzt werden sollte. Der Mandatar wartete bis alle Trauergäste sich in einen Halbkreis um das Urnengrab versammelt hatten. Dabei ließ sich ein Augenblick der Stille und des Stillstands nicht vermeiden. Und wenn Dagmar geistesgegenwärtig genug gewesen wäre und mit dem schönen Händchen, dem Linken, das von Herzen kommt, in die Luft gegriffen hätte, hätte sie wohl ein großes Stück von dem kleinen Glück aufgeschnappt, das die Natur einfachen, bodenständigen Leuten, die das Herz auf dem rechten Platz haben, bereit hält. So blieb ihr nur kurz festzustellen, dass Gertrud ihren Platz für die ewige Ruhe richtig gewählt hatte. Es war ein Ort mit Gras, Blumen und Bäumen. Es gab Plätze in ihrem Garten, die so waren. Wer nicht heimisch sein darf, muss sich heimisch machen. Dabei gibt es keine heile Welt. Dazu sind diese Plätze zu bescheiden. Und dazu musste man für so einen eigenen Platz zu oft, zu viel und zu hart arbeiten.

Der Trauerredner hielt eine kurze Rede. Dann folgte zumindest das Vater unser. Das Vater unser war wie das Gehen. Es hilft immer. In seiner Ungereimtheit auch Gertruds Leben näher als jedes Lied, waren die Worte dieses Gebetes so gesetzt, dass man sie wie bei jedem Gang rhythmisch so gestalten konnte, wie es gerade angemessen war. Auf die Länge und die rituelle Struktur war verzichtet worden, um falsche Gefühligkeit zu vermeiden. Was immer das auch sein mochte. Und es stimmte, dass Gertrud keine Kirchgängerin gewesen war. Sie war in den Garten gegangen, so lange sie konnte. Und ihren Garten hatte sie mit Kopf, Herz und Hand gepflegt und war damit bodenständig genug, um Herz und Seele nach oben und ganz weit offen zu haben. Und damit gehörte sie im unkonfessionellen Sinn zu den gläubigen Menschen. Und sie hatte gebetet.

Und was konnte auf dieses einfach und dennnnoch großartige Gebet folgen? Jeder Trauergast ging zum Urnengrab. In den letzten Tagen war viel und laut über die Beerdigung gesprochen worden. Und weil alle sich bemühten so laut und so schnell als möglich mitzureden, waren viele falsche Worte gefallen. Und sie alle hingen nach dem Vater unser plötzlich in der Sommerluft. Die Tränen, die auch bei Dagmar, die sie schlucken wollte, reichlich flossen, hatten sie nicht wegspülen können. Jeder ging allein an das Grab, auch wenn sie zu zweit an das Grab herantraten wie Martha und Dagmar. Plötzlich wurde Dagmar gewahr, dass sie vor einem Korb mit Blütenblättern stand. Und links neben diesem Korb, also an der Herzensseite war das Urnengrab. Auf die Blütenblätter und dieses Loch war Dagmar nicht vorbereitet gewesen. Darüber war in all der Zeit, die seit Gertruds Sterben verstrichen war, kein Wort verloren worden. Dagmar erinnerte sich daran, dass sie vor fast dreißig Jahren hier auf dem Friedhof aber an ganz anderer Stelle für die Großmutter einen Kranz in ein größeres Grab geworfen hatten. Und Gertrud hatte sich ihr anonymes Grab auch deshalb gewünscht, um nicht neben ihrer Schwiegermutter in das Doppelgrab zu müssen. “Was ist jetzt zu tun? – Hier geht es nicht um das schöne Händchen. – Wie viele Blütenblätter müssen es sein? – Achtundachtzig – Erst immer fünf und zuletzt drei!”! “Mensch, Daggi, was machst du denn da? Du hältst den ganzen Verkehr auf!”

Martha sprach leise, aber der ungeduldige Ton in ihrer Stimme war nur umso lauter zu hören.
“Nicht die Sonne, die Weite bringt es an den Tag!”
“Ich zähle die angemessene Zahl für Gertrud ab!”
“Für Gertrud?”
“Ja, für Gertrud, die mit dem Schwert vertraute. So hieß sie doch!”
“Aber warum sagst du Gertrud zu ihr, Daggi? Sie war unsere Mutter!”
“Ja, das auch!”
“Wie viele von den Blütenblättern meinst du denn zu brauchen?”
“Die fünfundsiebzig für jedes gelebte und erlebte Jahr habe ich schon! Also die viele Arbeit, der Kummer, die Sehnsucht, die Vertreibung, die Krankheiten und so sind schon bedacht!” “Und was kommt jetzt noch?”
Diese spitze Frage nahm Dagmar erst abends, als sie in ihrem Bett lag, wahr. Was sie aber in Echtzeit spürte, war Marthas wachsende Ungeduld. Sie hätte Dagmar gern stehen gelassen. Aber das traute sie sich nicht. Wenn sie sich wenigstens mit den anderen Trauergästen hätte verbünden können. Aber die warteten geduldig in gebührendem Abstand, weil sie Dagmars Tränen bemerkten und fühlten, dass alles seinen angemessenen Lauf für Dagmar und für Gertrud ging.
Und alles ging so gut als möglich.
“Fünfundsiebzig für jedes gelebte und erlebte Jahr, eins als Trostpflaster für jeden Kummer, eins zum Trost für die unerfüllte Sehnsucht, eins für die unerfüllte Liebe, eins für jede erlittene Ungerechtigkeit, eins als Lohn für jede Plackerei, eins für jede vergebliche Mühe, eins für jeden erlittenen Schmerz und für jede Krankheit. Und der Dank darf nicht fehlen, eins für jedes gute Wort, eins für die Zuverlässigkeit, eins für jede geübte Nachsicht, eins für die Liebe, die immer von Herzen kam, auch wenn sie immer nur ein praktisches Aussehen hatte, eins für die Mühe um Gerechtigkeit und eins für die Bemühung um Verständnis, was selten gelang aber nie aufhörte.”

(c) Paula Grimm / Kerken

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Achtundachtzig Blütenblätter für Gertrud

BLAutor – Arbeitskreis blinder und sehbehinderter Autoren – www.blautor.de