Ursula Müllers Leseproben

Liebe Besucher:innen,
hier erhalten Sie einige Leseproben aus dem literarischen Werk von Ursula Müller.
Viel Freude beim Lesen.

Ich sehe was nicht, was du siehst

Wenn die Luft beginnt anders zu riechen
sehe ich den Frühling
wenn das Stimmengewirr im Speisesaal der Klinik einen Teppich entstehen lässt
sehe ich mich umgeben von Gemeinschaft
wenn die Fahrgeräusche der Autos, das Hupen und Bremsen die Straßen füllt
sehe ich Hektik
wenn eine Häuserwand an mir vorbeigeht und die Wärme des Sommers abstrahlt
sehe ich flirrende Hitze auf dem Asphalt
wenn etwas unter meinen nackten Füßen kitzelt
sehe ich vertrocknete Gräser und Blumen
wenn es regnet und die Sonne auf meinem Gesicht tanzt
sehe ich einen Regenbogen
Ich sehe was, was du nicht siehst –
und das ist einfach nur anders

Ursula Müller

Das Blaue Haus

Es ist wieder Dienstag. Dienstag ist ein guter Tag. Dienstag ist der Tag vor Mittwoch, dadurch wird er zu einem guten Tag. Ich blicke aus dem Fenster, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Es ist plötzlich kalt geworden und soll sogar schneien.
Was soll ich anziehen morgen. – ich überlege. Der neue taubenblaue Pullover mit dem kleinen Rollkragen soll mir sehr gut stehen. Alle sagen, er passt wunderbar zu meinen Augen und zu den blonden Haaren. Ob du das auch so siehst? Manchmal wüsste ich gerne, welche Farbe dir wohl gut steht und wie deine Augen mich ansehen.
Sehen, wie du mich ansiehst, nicht nur fühlen. Ich wende mich vom Fenster ab und suche den blauen Pullover.
Am nächsten Morgen ist es sonnig. Nach all der Zeit bin ich immer noch aufgeregt, jedes Mal. Für den blauen Pullover ist es zu warm also überlege ich neu. Es ist noch früh, ich bin rechtzeitig aufgestanden, ich habe meine Routine. Also besser pink an diesem Mittwoch und die Ohrringe mit Perlen. Ich weiß, du magst sie besonders. Ich weiß, wie die Dinger aussehen, welche Farben sie haben, auch wenn ich sie nicht mehr erkennen kann. Heute gehe ich zu Fuß, ich habe meinen kleinen Rollkoffer dabei. Auch das ist Routine, auf eine beruhigende und schöne Weise. Ich habe schon lange aufgehört, mir Fragen zu stellen. Wie lange möchte ich noch so weitermachen. Wie wäre es, wenn alles anders wäre, wenn alles „normal“ wäre. Wären wir noch zusammen ohne das Verbotene, ohne die Sehnsucht, die immer wieder wachsen kann, Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag, Montag, Dienstag. Sind wir überhaupt zusammen, ja, mittwochs.
Ich bin zu früh, am Empfang kennen sie mich schon. Zimmer 427. Im Foyer steht die Luft, ich nehme die vertrauten grafischen Muster auf den Teppich und an den Wänden wahr, meine Orientierungspunkte auf dem blauen Teppich und den blauen Wänden. Darum sind wir hiergeblieben, ich mag blau. Es fühlt sich an, als wäre das Leben nach allen Seiten offen, als wäre alles möglich, überall Horizont. Das ist blau.
Mein Stock sucht die Aufzugtür. Im Flur oben kenne ich mich aus und finde 427 schnell. Ich schließe die Tür leise hinter mir und ziehe die Schuhe aus. Das Zimmer macht mich lächeln, und meine Füße versinken im blauen Teppich. Es duftet leicht nach Zitrone, ich öffne das Fenster und lasse noch ein wenig Leben von außen herein, bevor wir endlich alleine sind. Ich packe meinen Koffer aus, räume in den kleinen Schrank ein und ins Badezimmer, was ich brauche. Ich lege das Geschenk für dich auf dein Kopfkissen. Noch 1 Stunde. Ich bestelle beim Zimmerservice Sandwiches und eine Flasche Weißwein. Jetzt keine Störung mehr, ich lege alles in den Kühlschrank, zusammen mit deiner Lieblingsschokolade. Bald ist es Zeit.
Ich schließe das Fenster, die Vorhänge, die Augen. Jeden Moment. Es klopft. Mein Herz.
Am nächsten Morgen wecken mich Geräusche auf dem Flur. Mein Herz. Es klopft.
Der Duft des Raums hat sich verändert, ich atme tief ein und umarme die Erinnerung. Das Bett ist warm und ich taste nach deinem Geschenk. 30 Minuten später habe ich meinen Koffer gepackt und schließe die Tür leise wieder hinter mir. Heute trage ich schwarz. Die Mitarbeitenden des Blauen Hauses grüßen mich sehr freundlich. Sie sind immer sehr freundlich, auch am Donnerstag. Vor der Tür erwartet mich ein Asphalt, der nicht flüstert. Zu laut, zu viel, zu grell. Ich überquere rasch die Straße. Nur 200 m geradeaus, mein Rollkoffer biegt auf den Schotterweg ein und es wird still. Friedhöfe sind wirklich grüne Oasen mitten in der Stadt. Ich finde es nicht mehr alleine, aber meine Beschreibung ist gut und eine Frau führt mich. Meine Hände finden den kalten Stein, und ich lege das Geschenk für dich darauf. Bis nächsten Mittwoch, sage ich leise und gehe in die Welt zurück.

Das blaue Haus – Teil 2 – Frau Merten

Am liebsten habe ich die Tagesschicht. Da bekommt man was von den Gästen mit. Das finde ich interessant und manche sind mir richtig ans Herz gewachsen. Am liebsten habe ich die Frau Merten. Sie kommt immer mittwochs, jede Woche. Gut, manchmal ist sie auch in Urlaub und meldet sich vorher ab für drei Wochen. Aber sonst – jeden Mittwoch. Die Frau Merten kommt um 17:00 Uhr, sie ist immer klasse angezogen. Aber nicht so drüber, wenn sie verstehen, was ich meine. Nicht so aufdringlich teuer, sondern einfach cool. Ich glaub sie hat ganz gut Geld, sie steckt mir auch immer etwas zu und lässt Trinkgeld auf dem Zimmer. Aber nicht von oben herab, sondern nett. Ich mag die Frau Merten. Ich versuche immer unten zu sein, wenn sie kommt. Sie sagt meistens erst mal etwas darüber, wie es bei uns riecht. Wusste gar nicht, dass es so viele verschiedene Gerüche gibt. Aber naja, die Frau Merten ist blind. Das macht aber nix, sagt sie selber auch. Für sie ist das halt wichtig mit riechen. Sie bringt regelmäßig eine Flasche mit Raumduft-Öl mit. Jeden Mittwoch versprühe ich es in Zimmer 427 und öffne dann das Fenster. Der blaue Teppich riecht schon nach dem Zeug. Aber die anderen Gäste finden es auch gut, denken, das ist ein Service von uns. Ich bin jetzt schon vier Jahre hier und seither kenne ich sie, die Frau Merten. Die Chefin sagt, dass sie schon länger zu uns kommt. Ich wüsste ja gerne, was dahintersteckt, aber ich frag nicht. Die Chefin sagt, das mit der Diskretion ist das Wichtigste. Wenn die Gäste erzählen möchten, okay, aber keine Fragen. Geht mich ja auch nichts an. Frau Merten erzählt nie was. Aber sie ist immer freundlich. Ich bringe ihr jedes Mal die Sandwiches und den Weißwein hoch. Sie ruft kurz an und bestellt immer das gleiche. Ganz schön langweilig. Dann bringe ich ihr die Sachen und wir reden ein bisschen. Sie hat so einen tollen knallroten Rollkoffer. Da hab ich mal gefragt, ob ich den anfassen darf. Ich dachte, der ist bestimmt total weich. War er auch und riecht wunderbar nach Leder. Die Frau Merten hat es halt mit den Düften. Der Mann ist immer später gekommen, meistens um 20:00 Uhr oder so. Ein oder zweimal waren sie auch bei uns unten essen, aber ich glaube sie werden nicht gerne zusammen gesehen. Waren ganz nervös. Der Mann gefällt mir und die beiden sind echt süß miteinander. Das passt schon bei denen. Da muss man nur beobachten, wie sie miteinander sind und sich berühren. Ich wüsste ja gerne was dahinter steckt, aber das geht mich alles ja nichts an. Die passen so gut, aber irgendwas passt dann wohl doch nicht. Sonst käme sie nicht zu uns. Das habe ich immer gedacht. Der Mann ist achtzehn Jahre jünger als die Frau Merten. Das dürfte ich eigentlich nicht wissen, aber ich habe mal im Gästebuch nachgesehen. Ich erzähls ja auch keinem. Die Frau Merten sagt, sie kommt so besonders gerne zu uns, weil hier alles so blau ist. Das hab ich nicht verstanden und schon mal zu ihr gesagt, das müsste ihr doch eigentlich egal sein, ob unser Teppich blau oder gelb ist oder wie jemand aussieht. Sie kann ja kaum noch was erkennen. Das ist mir so rausgerutscht, da hab ich mich entschuldigt. Aber die Frau Merten hat gesagt, das wäre ihr gar nicht egal. Sie weiß wie ihr Zimmer aussieht. Wie der Mann aussieht. Inzwischen auch wie ich aussehe. Die Frau Merten hat früher ganz normal gesehen. Ist eine Krankheit, den Namen habe ich vergessen. Ja, so ist das lange gewesen, aber irgendwann kam der Mann nicht mehr. Die Kollegin von der Frühschicht hat es mir erzählt, dass er nicht da gewesen ist an dem ersten Mittwoch. Und dann am nächsten Mittwoch auch nicht, und wieder nicht. Wir haben nichts gesagt, wegen der Diskretion und die Frau Merten hat auch nichts gesagt. Und die Frau Merten kommt weiter jeden Mittwoch. Alles blieb gleich. Nur am nächsten Tag, wenn das Zimmer aufgeräumt wird, sind die Sandwiches noch im Kühlschrank und der Weißwein. Nichts angerührt. Ich werfe ja ungern etwas zu essen weg, aber es ist jedes Mal so. Die Chefin verschenkt den Weißwein manchmal an eine von uns. Das ist irgendwie total traurig, aber natürlich frage ich nicht, das geht mich ja auch nichts an. Die Frau Merten ist dünn geworden und stiller, aber nicht unglücklich irgendwie. Die Chefin meint, da muss was Schlimmes passiert sein. Sie hat in der Zeitung geschaut. Hat aber nichts gefunden. Ich freue mich immer wenn die Frau Merten kommt. Vielleicht erzählt sie mir irgendwann mal die ganze Geschichte. Wenn ich die Sandwiches und den Weißwein rauf bringe. Aber das geht mich ja eigentlich alles gar nichts an.

Vater unser 2.0

Große, liebevolle Weisheit, die du alles erfüllst
Geheiligt werde deine Schöpfung
Dein Geist komme
Dein Plan gehe auf, dein Wunder geschehe
Wie im Großen, so im Kleinen
Unsere tägliche Hoffnung gib uns heute
Und vergib uns, was wir uns selber nicht vergeben können
Wie auch wir nicht bewerten und verurteilen wollen
Und führe uns nicht zu Aufgaben, die noch zu schwer für uns sind
Sondern erlöse uns von der Dunkelheit
Denn dein ist das Universum und alles, was existiert, die Liebe und die Heimat allen Lebens
Amen

Ursula Müller

Unsichtbar

Sei geduldig mit den Normalen
Sie können nichts wissen von deinen Schmerzen
Sei freundlich, wenn sie dich beachten und dir Hilfe anbieten
Sei dankbar, es gibt Blindenfußball – du hast dich nie für Fußball interessiert
Sei glücklich, wenn sich beim Ausstellungsbesuch Menschen an dein Tempo anpassen und du nicht wieder versuchen musst, so schnell zu sein wie sie
Sei tapfer, wenn sie dich dafür loben, dass du das alles so gut machst
Sei zufrieden, wenn du etwas abbekommst auch wenn du gerade das gar nicht haben wolltest
Stelle keine Forderungen
Habe keine Ansprüche
Sei nicht rebellisch
Sei nicht unbeherrscht
Sei bei all der Last, die du für die Gesellschaft bist, nicht auch noch schlecht drauf
Schrei in deine eigenen Ohren
Wein in deine eigenen Augen
Zeig dich nicht mit deiner Unvollkommenheit
Mach dich unsichtbar

Ursula Müller

Am Anfang war das Wort

Frieden schlägt im Wohngebiet ein
Menschlichkeit hebt die automatische Waffe und löscht fünf Leben aus
Demokratie überrollt mit Panzern die Stadt
Völkerrecht macht alle Träume dem Erdboden gleich
Erbarmen entreißt der Mutter ihr Kind und schickt den Vater in den Krieg
Hoffnung lenkt die Drohnen ins Parlamentsgebäude
Verbundenheit sprengt sich selbst in die Luft
Vergebung wendet sich ab und resigniert
Es bleibt der Phoenix aber niemand ist da seine Schönheit zu bestaunen

Krieg – die Taten besiegen die Worte

Ursula Müller

Blindflug

„Die wahren Abenteuer sind im Kopf.“ Dem Satz habe ich vor einigen Jahren noch zugestimmt. Aber ist das wirklich so – vielleicht eher: „Die wahren Abenteuer beginnen im Kopf“ oder, wie ich es heute sage: „Die waren Abenteuer beginnen im Bauch!“ Da, wo unsere Gefühle sitzen, die, die wir haben, und die, die wir vermissen. Wo unsere Wünsche sitzen, unsere Bedürfnisse und wo das, was wir brauchen, uns Signale gibt. Wenn die Gefühle, die Wünsche und Bedürfnisse alle dort stecken bleiben und nicht ins Leben dürfen, wird der Bauch gefühlt immer schwerer, so wie das Herz auch immer schwerer werden kann.

Mein Bauch hatte an Umfang verloren, als ob ich den Abenteuern die Luft abdrücken wollte und die Nahrung vorenthalten. Immer enger. So wie mein Blick im Laufe der Jahre immer enger geworden ist durch die Augenerkrankung Retinopathia pigmentosa (es wird auch Tunnelblick dazu gesagt). Wobei ich im Moment eher nur noch über einen Stecknadelkopf-Blick verfüge (spielt jemand Scrabble?).
Bei dieser Erkrankung der Netzhaut sterben die Sehzellen langsam ab, meist von außen nach innen. Es gibt auch andere Verläufe, die schneller vor sich gehen und viele Varianten dieser Erkrankung. Bei mir ging die Verschlechterung der Sehfähigkeit schubweise vor sich und hat mein Leben sehr verändert, mich auch innerlich eingeengt. Ich dachte: „Die wahren Abenteuer sind im Kopf“ und damit muss ich mich abfinden und zufriedengeben. Es gibt Menschen, die schwören auf Virtual Reality, und Wissenschaftler, die sagen, die Fantasie ist für das Gehirn (fast) genauso „spürbar“ wie die Realität. Sprich: Hormonausschüttung, Glücksgefühle etc. Ich steh total auf Wissenschaft, auf alles, was sie heute über den Menschen, das Weltall, die Zusammenhänge von allem mit allem herausfinden. Aber manchmal. . . Manchmal regt sich mein Widerstandsgeist. Ein Buch zu lesen ist etwas anderes, als sich vorzustellen, ein Buch zu lesen.

Ich kann keine Bücher mehr lesen. In den Urlaub zu fahren in eine fremde Stadt, ganz alleine, sie zu erkunden und zu erleben und kennen zu lernen, ist etwas anderes, als nur davon zu träumen und es sich in allen Farben auszumalen. Virtual Reality mag nah herankommen, aber ich bin ein Mensch und möchte mit all meinen Sinnen in der realen Welt das Leben fühlen. Nun ist aber einer meiner Sinne extrem eingeschränkt und kaum noch vorhanden. Aber das bisschen, was mir geblieben ist, ist noch eine Brücke zur Welt der Sehenden. Wenn sie abgebrochen wird, werde ich neue Wege finden.

Mein Mann ist vor elf Monaten und zwei Wochen gestorben. Es kam völlig überraschend für mich.
Den Urlaub hatte ich lange vorher gebucht. Und ich hatte total vergessen, ihn zu stornieren. – Irgendwas wehrt sich – und da ist der Weg!
Wieso stornieren? Also habe ich die Fahrt organisiert, mit Mobi-Unterstützung der Deutschen Bahn, die Koffer vorgeschickt und meinen weißen Langstock mit einer neuen Kugelspitze versehen.

Wenn es sich am Meer nicht gut anfühlt, wenn ich mich länger als zwei Tage einsam fühle, fahre ich wieder nach Hause. Woher soll ich wissen, ob ich soweit bin, ob etwas wieder meine Lebensgeister berührt, wenn ich nichts wage. Schritte. Schritte.

Auf das Meer ist Verlass. Es ist noch da und ich habe wie immer das Gefühl, es versteht mich und nimmt mich erstmal in die Arme. Am Tag meiner Ankunft ist es rau und unruhig – auch die Ostsee kann das.
Ich stehe am Strand und lasse los, was sich lösen will. Horizont und Himmel und Wasser gehen ineinander über, mein Herz klopft. Eine Frau spricht mich an, brauche ich Hilfe? Mein Blindenstock macht aufmerksam und suggeriert für viele, dass ich nicht allein zurechtkomme. Aber diese Art von Hilfe brauche ich gerade nicht. Wir unterhalten uns länger, lachen und freuen uns über die gute Luft hier oben. Atmen. Wir wünschen uns Glück und gehen unserer Wege. Schritte. Schritte.

In meinem Hotel finde ich „Menschen, die passen“. Wir sitzen beim Essen zusammen und haben eine Wellenlänge. Nach ein paar Tagen: Hast du gehört, Uli? Bei der letzten Motto-Woche waren die vom Gästeservice mit ein paar Leuten im Kletterwald. Klick. Resonanz. Die Höhe, der Abgrund, nichts sehen und doch weitergehen, ohne Boden unter den Füßen. Schritte. Schritte.

Hans arbeitet im Gästeservice. Hans, wann fahrt ihr wieder, wann ist die nächste Möglichkeit, ich komme auf jeden Fall mit, Hans – wann?
Mittwoch – Das kleine Hotel-Büschen ist startklar. Ich war sehr nervös in den letzten Tagen, jetzt fühle ich mich seltsam ruhig. Was soll mir passieren.

In der Nähe des Kletterwaldes machen wir einen Stopp und bummeln, gewissermaßen zum Aufwärmen, ein bisschen durch die Fußgängerzone der Stadt. Das Wetter lädt ein. Sie wollen in einen Souvenirladen. Ich werde ungeduldig, gehe aber mit. Ich kaufe ein rundes blau-weißes Kissen mit einem Anker-Motiv. Weiße, schmale Taue sind an den Seiten um das Kissen geführt – zum Festhalten. Alles zum Festhalten. Hans erklärt gut, geduldig, bildhaft. Er führt unsere kleine Gruppe zur Kasse. Mit unseren langen Stöcken und den Blinden-Buttons sehen wir anders aus. Dunkelhaarig, mit Jacke, ohne Jacke, schüchtern, blond, laut, buddhistisch, mit Brille, ohne Brille, korpulent, klein, Frau mit Migrationshintergrund, sprachbegabt, sportlich. Divers. Was ist die Norm – das dreiblättrige oder das vierblättrige Kleeblatt, das in unserer Kultur als Glückssymbol gilt. Wertung.

Wir warten, die Geräusche des Scanners. „20,17 €“ eine Stimme aus dem Off. Der Mann redet mit Hans. Toll, dass Sie das hier machen mit diesen Menschen. Respekt. Dann kommen die auch mal raus und erleben was. Zack. Ich möchte reagieren, aber ich habe heute ein wichtigeres Ziel und keinen Raum für Grundsatz-Diskussionen. Hans hat das Gespür für die Worte. „Ja,“ erwidert er, „ich habe einen Superjob! Bummeln, in den Kletterwald, anschließend Kaffee und Kuchen. Und das bei dem Wetter! Und ich kriege auch noch Geld dafür, Zeit mit diesen netten Leuten zusammen zu sein. Bringt richtig Spaß.“ Wir zahlen. Ich bin traurig. Wer sieht hier was nicht?

Mir fehlt

Mir fehlen die Augen
Dir fehlt das Verständnis

Mir fehlt eine Niere
Dir fehlt die Zeit

Mir fehlen IQ-Punkte
Dir fehlt die Fantasie

Mir fehlt Insulin
Dir fehlt der Zuckerguss über dem Alltag

Mir fehlt die Stimme
Dir fehlen die Worte

Mir fehlen die Beine
Dir fehlt der Boden unter den Füßen

Aber weiter, das Ziel wartet.
Perfektes Sommerwetter, trocken und sonnig. Die hohen Bäume des Kletterwaldes geben angenehmen Schatten. Stimmengewirr, viele Kinder, Juchzen und Schreien über unseren Köpfen. Da will ich hin. Nicht an diesen Ort, zu diesem Gefühl.

Anprobe der Sicherheitsausrüstung, Helm, Gurte und Karabinerhaken überall. Klick.
Mein Bauch und mein Herz ziehen in verschiedene Richtungen. Ich bin gesichert. Hans kommt direkt hinter mir. Er holt mich raus, wenn ich hängen bleibe, wenn ich abrutsche. Und wenn es zu viel ist, kann ich jederzeit abbrechen. Aber ich sehe die nächste Plattform, das Ziel gar nicht! Ich könnte abstürzen, mich verletzen. Ich gehe, ohne zu wissen wohin, irgendwo zwischen Himmel und Erde und Bäumen. Das kommt mir bekannt vor. Mut, Vertrauen, Abenteuer Leben, Abendteuer leben. Schritte. Schritte. Geht das?

Was trägt mich? Dafür habe ich kein Wort – aber ich gehe. Schritte. Schritte. Hans erklärt den Weg wie er ihn sieht. In meinem Kopf entsteht ein Bild. Wenn du die Arme nach oben streckst, fühlst du rechts und links Ringe, an denen du dich festhalten kannst. Schieb einen Fuß nach vorne, ein schwankendes Holzbrett, circa 10 cm breit und 30 cm lang. Es sind 14 Bretter für rechts und links. Die Plattform kommt in 8 m. Ich gehe. Schritte. Schritte. Ich höre seine Stimme im Hintergrund und taste mit Händen und Füßen, die Augen geschlossen. Unter mir die Welt, Lachen und Wortfetzen. Hier oben ist das schon weit weg. Viel Chemie schießt durch meinen Körper. – Aber das ist es nicht. Ich öffne kurz die Augen und sehe Licht durch das Blätterdach fallen: „There‘s a crack in everything, that’s how the light gets in.“ (Leonard Cohen aus „Ring the bells“, 1992)

Hans befestigt meinen Karabinerhaken an der Zipline, meine Hände zittern zu sehr. Spring Uli. Minutenlang kann ich mich nicht bewegen – ich fühle den Abgrund vor mir. Spring Uli. Du wirst gehalten. – Ich springe. Ich schreie. Blindflug.
Meine Füße landen weich. Auf der Plattform fängt eine Gummimatte den Stoß ab. „Läuft bei dir, Uli“, ruft Hans. Und ich höre seine Freude. Meine Lebensgeister lachen und applaudieren. Ich sehe vor meinem inneren Auge das Meer. Es nickt mir zu und sagt: Komm vorbei, davon musst du mir erzählen.

Abenteuer Leben.

Ursula Müller