Über das größte Geschenk an die Blinden

Über das größte Geschenk an die Blinden

Anneliese Useldinger

Das Jahr 2009 ist gespickt mit Jubiläen. Wohlbekannte Größen wie Felix Mendelssohn-Bartholdy und Charles Darwin hatten vor 200 Jahren Geburtstag, Georg Friedrich Händel starb vor 250 und Joseph Haydn vor 200 Jahren und der Apostel Paulus wurde vor 2000 Jahren geboren. Aber auch eine Minderheit unserer Gesellschaft: Blinde und Sehbehinderte feiern den 200. Geburtstag eines genialen Erfinders, der, selbst erblindet, seinen Schicksalsgefährten eine taktile Schrift schenkte, ohne die ihre heutige Situation undenkbar wäre.

Ich glaube, dass dieser Louis Braille, der schon mit 16 Jahren eine Reliefschrift erfand, wie auch sein Wegbereiter Valentin Haüy und Hauptmann Barbier nebst einigen anderen Werkzeuge der gütigen und erbarmenden Liebe Gottes waren, um dem bis dahin fast ausschließlichen Bettlerdasein blinder Menschen – zumindest in einem Teil der Welt – ein Ende zu setzen, indem sie ihnen eine schreib- und lesbare Schrift schenkten und sie damit in die menschliche Gesellschaft integrierten. Das wurde mir bewusst, als ich vor 50 Jahren diese faszinierende Tastschrift erlernen musste, die für mich zum Schlüssel zu einem selbständigen Leben wurde.

Es war ein höchst sonderbares kleines Orchester, das da im Jahre 1771 vor einem Pariser Cafe-Haus auf dem St.-Ovide-Markt seine Musik und bizarre Theaterszenen darbot. Der Kapellmeister thronte als König Midras mit Eselsohren auf einem Pfau. Die anderen Spieler trugen riesige Pappbrillen auf der Nase und hohe Hüte auf dem Kopf. Was diese exotisch gewandeten Scheinmusiker mit ihren dissonierenden Geigen von sich gaben, klang jämmerlich. Zwar hatten sie Noten vor sich auf den Pulten, die verkehrt herum standen zum Spott für diese Blinden.

Die Zuhörer rings herum klatschten begeistert, schlugen sich auf die Schenkel; sie prusteten und wieherten ob dieses komischen Anblicks. Der Wirt, der diese seltsamen Darbietungen angeboten hatte, konnte sich wieder einmal genüsslich die Hände reiben, hatte diese Blindenkapelle erneut für regen Zulauf zu seinem Cafe und damit für ein gutes Geschäft gesorgt.

Nur einer, der auch zusah und zuhörte, beteiligte sich nicht an dem Lachen und Gejohle der Menge, er stand still und traurig abseits. Valentin Haüy war Zeuge eines zu dieser Zeit üblichen „Blindenkonzerte“, bei denen Blinde zur Ergötzung des Pariser Pöbels in närrischer Maskierung mit einer Art Katzenmusik aufwarteten. Der Anblick dieser armen Blinden, die in roher Weise zur Belustigung eines Publikums präsentiert wurden, das sich keinerlei Gedanken über das Schicksal und die Entwürdigung dieser blinden Menschen machte, bewegte den französischen Gelehrten und Beamten Valentin Haüy und gab einem schon lange von ihm gehegten Plan neue Nahrung.

Etwas mehr als 40 Jahre später: Schauplatz war diesmal eine Sattlerwerkstatt in dem Dörfchen Coupvray bei Paris. Ein kleiner Junge, der auch an diesem Tag des Jahres 1812 am Arbeitsplatz seines Vaters spielte, wo er sich am liebsten aufhielt, sammelte in diesem schummrigen Raum, wo es nach Leder und Säure roch, die Abfälle auf, die dem mit sicherer Hand geführten Messer des Vater zum Opfer fielen, und setzte die Stückchen, Streifen, Dreiecke und Halbmonde zu neuen lustigen Figuren zusammen. Wieder einmal war der Meister in seine Arbeit vertieft. So hatte er nicht wahrgenommen, dass sein Sohn klammheimlich die spitze Ahle vom Werkzeugtisch genommen hatte. Oft schon hatte der Kleine dem Vater zugeschaut, wie dieser kunstgerecht das Leder zuschnitt. Jetzt wollte er es ihm gleichtun. Doch das Lederstück erwies sich als zu hart; des nadelspitze Messer glitt ab und schoss in das linke Auge des Kindes. Die Verletzung war so schwer, dass der Junge die Sehkraft des linken Auges sofort und die des anderen – vermutlich durch eine Infektion – zwei Jahre später verlor. Das von Valentin Haüy auf dem Saint-Ovide-Markt miterlebte erbärmliche Musikspektakel und das tragische Unglück des Louis Braille in der Werkstatt seines Vaters – diese beiden Ereignisse sollten in die Geschichte eingehen und für blinde Menschen weltweit entscheidende Veränderungen zu einem besseren Leben nach sich ziehen.

1784 gelang des Haüy, sein lang gehegtes Vorhaben in die Tat umzusetzen. In Paris gründete er die erste Blindenschule der Welt und machte damit den Anfang, auch armen Blinden den Zugang zu Erziehung, Bildung und Beschäftigung zu bieten und sie aus dem Dunkel der Unwissenheit und von dem Missbrauch durch Profiteure zu befreien. Seine Begegnung mit der blinden Österreicherin Maria Theresia von Paradis, einer berühmten Sängerin, Organistin und Komponistin, bewog ihn dazu, an die Bildungsfähigkeit blinder Menschen zu glauben und die armen Scheinmusikanten wie auch die vielen Bettler von den Pariser Straßen in seiner Schule zu belehren und ihnen ein besseres Leben zu gewährleisten. so schrieb er: „Es darf nicht sein, dass Blinde wie Ausgestoßene dahinvegetieren. Ich will alles tun, um diese Unglücklichen in ein menschenwürdiges Dasein zurückzuführen. Haüy ist es nicht nur zu verdanken, dass die Idee der Bildungsfähigkeit blinder Menschen sich immer stärker durchsetzte und nach und nach auch in den anderen europäischen Hauptstädten Blindenschulen entstanden, er führte erstmals auch einen Reliefdruck ein. Allerdings beschränkte sich sein System darauf, lediglich die lateinischen Buchstaben tastbar wiederzugeben. Aber einen wirklichen Zugang zu Wissen und Bildung brachte dieser Reliefdruck nicht für die Blinden. Diese Schrift konnte man zwar entziffern, jedoch keinesfalls flüssig lesen oder gar schreiben. Das Tor zum Lesen und Schreiben und damit zu einem geistigen Leben das stieß erst Louis Braille auf.

Nach dem Verlust seines Augenlichts wurde Louis Braille von seinen Eltern mit viel Liebe und Verständnis erzogen. Sie förderten vor allem seine manuelle Geschicklichkeit. Zunächst besuchte er die Dorfschule von Coupvray. Er war ein guter und aufmerksamer Schüler, auch wenn er damals noch nicht lesen und schreiben konnte.

Am 15. Januar 1819 trat der Zehnjährige in das Institut von Haüy ein, das erst als Privatschule existierte, aber inzwischen vom französischen Staat übernommen worden war. Auch hier zeichnete sich der Junge dadurch aus, dass er das Wesentliche einer Sache schnell und scharf erfassen und exakt wiedergeben konnte. Diese Eigenschaften waren sicherlich eine gute Voraussetzung für seine spätere Erfindung.
Am 21. April 1821 tauchte Charles Barbier, ein ehemaliger Artillerie-Hauptmann, im Blindeninstitut auf und stellte dort die von ihm entwickelte taktile Nachtschrift vor. Sie sollte es im Kriegsfall den Soldaten ermöglichen, ohne Entzünden eines Lichtes wichtige Meldungen zu lesen. Dabei konnten sie mit ihren Fingerspitzen erhabene Punkte ertasten, die der Absender der Botschaft mit einem stumpfen Stichel in festes Papier gedrückt hatte. Diese seine Nachtschrift entwickelte Barbier dann weiter zum Gebrauch durch Binde. Er entwarf eine Lautschrift, die mit 6 Punkten in der Höhe und 2 Punkten in der Breite die Grundlaute der französischen Sprache in verschiedenen Gruppierungen wiedergab.

Louis, gerade 12 Jahre alt, war von Barbiers System begeistert. Doch schon bald begriff er, dass diese Schrift nicht ausgereift und viel zu kompliziert war. Für nur einen Buchstaben wurden mitunter bis zu 12 Punkte gebraucht. Orthographie, Interpunktion und mathematische Zeichen waren nicht möglich. Aber warum benötigt ein Blinder – so fragte sich Louis Braille – Tausende von Zeichen, wenn das Alphabet nur 24 davon umfaßt. Doch die Idee einer taktilen Schrift für Blinde ließ ihn nicht mehr los. Nächtelang grübelte er darüber und probierte dieses und jenes aus.

1825 – endlich – hatte der Sechszehnjährige dank seines beharrlichen Willens und seines klaren logischen Denkens den „Stein der Weisen“ gefunden. Er verringerte die Zahl der Punkte auf 6, angeregt durch das Würfelspiel, bei dem er sich immer über einen Sechser heftig freute. Und aus dieser Grundform ließen sich 63 Kombinationen bilden, die relativ leicht umzusetzen waren. Nicht nur die Buchstaben des Alphabets, sondern auch Ziffern, Satzzeichen und vieles mehr wurden möglich. Später entwickelte er, der selbst gern Orgel spielte, auch ein System für Musiknoten.

Louis Braille hat nie geleugnet, dass er die Anregung zu seinem Blindenschrift-Alphabet dem Hauptmann Barbier verdankte; er selbst hat sich stets nur als „Vereinfacher“ oder „Ausgestalter“ bezeichnet. Doch mit dieser Einschränkung war er wohl zu bescheiden. Was er von Barbier übernommen hatte, ist ganz gewiss die großartige Idee mit den erhabenen Punkten. Ansonsten hat er jedoch ein grundlegend neues System geschaffen – und das in einer Verbindung von Einfachheit und Genialität, die vielen großen Werken eigen ist. Trotz des offensichtlichen Vorteils des 6-Punkte-Alphabets setzte sich dieses wie alles Neue nicht gleich durch. Vor allem bemängelten die sehenden Fachleute, dass diesem System jede äußere Ähnlichkeit mit dem Alphabet der Sehenden fehle. Aber Braille gab den Kampf um seine Erfindung nicht auf. 1850, ein Vierteljahrhundert danach, war es dann endlich soweit, dass sein Tast-Alphabet von der Pädagogischen Akademie Frankreichs anerkannt und im Pariser Blindeninstitut eingeführt wurde. Von da an trat die Braille-Schrift ihren Siegeszug rund um die Welt an.

Die öffentliche Ehrung für seine große Leistung wurde dem genialen Schöpfer der Blindenschrift freilich erst zuteil, als er, der seit seinem 20. Lebensjahr mit einer Lungenerkrankung rang, auf dem Sterbebett lag. Sein Vaterland Frankreich sprach ihm die höchste Auszeichnung zu, den Orden der Ehrenlegion. Doch dieser Orden konnte ihm nicht mehr übergeben werden, denn dieser stille und bescheidene Louis Braille starb am 16. Januar 1852, nur 43 Jahre alt. Hundert Jahre nach seinem Tod wurden seine Gebeine vom Friedhof seines Heimatdörfchens ins Pantheon, die Grabstätte berühmter Franzosen überführt. Alle vier Jahre wird der Louis Braille-Preis verliehen.

In einem Marmorkästchen sind nur seine Hände als sinnreiches Symbol in seinem Heimatort verblieben. Ein würdiges Denkmal am Straßenrand zeigt Louis Braille, wie er einem kleinen blinden Mädchen die Hand über sein Punktschriftblatt führt.

Für das große Werk Louis Brailles trifft in besonderer Weise ein Ausspruch zu, der von Gottfried Wilhelm Leibnitz stammt:
„Wer seine Schüler das ABC gelehrt hat, der hat eine größere Tat vollbracht als der Feldherr, der eine Schlacht geschlagen“.

(c) Anneliese Useldinger / Bonn

Zurück zur Seite Anneliese Useldinger
Zurück zur Seite Vita und Werke
Zurück zur Startseite

Über das größte Geschenk an die Blinden

BLAutor – Arbeitskreis blinder und sehbehinderter Autoren – www.blautor.de

Veröffentlicht von Christiane Quenel I. A. Blautor

Mein Name ist Christiane Quenel. Als Autorin bin ich die Paula Grimm. Als Sprecherin des Arbeitskreises blinder und sehbehinderter Autorinnen und Autoren (BLautor) bin ich seit Ende 2021 auch verantwortlich für die Webseite von BLautor.