Im Rausch

Im Rausch

Anneliese Useldinger

Es geschah vor etlichen Jahren, als ich noch wanderfähig und trinkfest war. An einem herrlichen Septembernachmittag hatten wir in einer kleinen Gruppe das prächtige Waldgebiet rund um das Harzsanatorium für Blinde in Osterode durchwandert und wollten uns am Abend davon ausruhen und unseren Durst stillen. Ich hatte mich verliebt und war verführbar, wenn es hieß: ein Stonsdorfer – herber Kräuterschnaps -, ein Bier! Und so ging es weiter, ich zählte weder die Schnäpse noch die Biere, bedenkenlos überschritt ich meine Alkohol-Fassungsgrenze und ließ mich einfach treiben. Der Hausvater kam kurz vor halb elf am Abend und mahnte die Kurgäste, sich bald zur Bettruhe zu begeben. Glücklicherweise kontrollierte er unseren Abgang nicht, so verschoben wir ihn leichtsinnig und atmeten erleichtert auf, als er die Cafeteria verließ. Gewonnen! Wir plauderten und tranken weiter und genossen die abendliche Freiheit. Irgendwann nach Mitternacht wurde es denn doch Zeit, unsere Schlafplätze aufzusuchen.

Der nächste Kurtag begann früh: 6 Uhr musste ich in der Bäderabteilung erscheinen und mich in die voll laufende Wanne begeben, es war ein Fichtennadel- oder Rosmarienbad, genau weiß ich es nicht mehr. Mein Kopf war schwer wie nie zuvor, und kaum im Bademantel, suchte ich die Toilette auf um mich zu erbrechen. Dann kam die Massage. Während Masseur oder Masseurin meinen Rücken kräftig durchknetete, sehnte ich mich nur nach dem Ende dieser Behandlung, die mir in meinem Katerzustand wie eine Folter vorkam. Endlich wieder frei, und schnell wieder ins Bett. Es war mir, als hätte ich eine Woche nicht geschlafen. Das Frühstück war mir so egal, aber nicht meinem Saufkumpanen und Saufkumpaninnen. Die stürmten im mein Zimmer und wollten mich unbedingt mitnehmen zum Speisesaal. Ich fragte mich, wieso diese Menschen keinen Kater zu haben schienen, die hatten doch auch gesoffen gestern Abend, warum nur ich? Als ich nicht auf ihre Aufforderung reagierte, fragte mich Lydia: „Hast du dir in der Nacht was getan?“ Was sollte ich mir getan haben? Da sagte sie: „Du bist doch im Flur hingefallen“. Davon wusste ich nichts, da war wohl der Film gerissen; aber bin ich denn allein in mein Zimmer gekommen? Oder war der Film doch nicht ganz durchgerissen? Ich war viel zu müde, um diese Frage zu klären. Nur in Ruhe gelassen werden und schlafen, nichts anderes kam mir in den Sinn. Endlich verließen die Mitsünder mein Zimmer. als ich auch nicht zum Mittagstisch erschien, da kamen sie wieder, und diesmal machten sie Ernst. Ein massiver Kitzelangriff schmiß mich aus dem Bett, aber aufstehen wollte ich immer noch nicht. In meinem Brummschädel hallte nur ein Wunsch: Macht euch fort, lasst endlich nach und haut ab! Das taten sie dann auch mit der Einsicht, dass ich absolut nicht mehr zu gebrauchen sei. Ich rappelte mich auf und kuschelte mich ins Bett. Endlich wieder Ruhe. Nein, ich hatte mir nichts getan – man sagt! Kinder und Besoffene fallen entspannt, ohne sich die Knochen zu brechen. Das habe ich mir bis ins hohe Alter bewahrt, auch ohne Suff!

Die Stunden verrannen, und ich erholte mich in Morphus‘ Armen. Da plötzlich fiel mir ein, dass ich um 16 Uhr mit einem befreundeten Ehepaar verabredet war, um nach Hohegeiß zu fahren. Jetzt konnte ich aufstehen und mich ausgehbereit machen. Pünktlich um 4 Uhr traf ich meine asketischen Freunde, die nichts von unserem Saufgelage mitbekommen hatten, und wir fuhren los. Die lange Ruhepause hatte sich gelohnt. Mein Schädel hatte aufgehört zu brummen, das Leben war wieder lebenswert. In Hohegeiß waren wir in einem rustikalen Restaurant zum Abendessen angemeldet. Gerade vor einer halben Stunde hatte der Chef des Hauses ein paar Forellen im nahen Bach gefangen, und die durften wir nun verzehren. O, ich konnte wieder essen! Forelle – ganz frisch – blau, Kartoffeln und etwas Salat, ja das war für mich fast wie ein Wunder, ein Hochgenuss.

Mein Magen revoltierte nicht mehr, auch nach einem Glas Wein nicht. Ich war wieder unter den Lebenden, dem nicht mehr munteren Fischlein sei Dank: Stonsdorfer Kräuterschnaps ist seitdem tabu für mich, Bier in Maßen schon bald wieder möglich. Aber so ein ausgewachsener Kater darf nie wieder Gewalt über mich erlangen. Ich habe meine Lektion gelernt: Alkohol ist nur dann gefährlich, wenn der Mensch sein Maß vergisst.

(c) Anneliese Useldinger / Bonn

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BLAutor – Arbeitskreis blinder und sehbehinderter Autoren – www.blautor.de

Veröffentlicht von Christiane Quenel I. A. Blautor

Mein Name ist Christiane Quenel. Als Autorin bin ich die Paula Grimm. Als Sprecherin des Arbeitskreises blinder und sehbehinderter Autorinnen und Autoren (BLautor) bin ich seit Ende 2021 auch verantwortlich für die Webseite von BLautor.