Achtundachtzig Blütenblätter für Gertrud

Achtundachtzig Blütenblätter für Gertrud

Paula Grimm

Der Sommer setzte Lebendes nicht mit flirrender Hitze unter Druck. Der Julihimmel hielt sich bedeckt. Aber es regnete nicht.
“Guten Tag, Daggi!”
“Herzliches Beileid auch dir, Daggi!”
“Wie geht es dir sonst so, Daggi?”
“Hallo, bald hätte ich dich übersehen, Daggi!”
Und Daggi, wie es aus aller Munde kam, hatte wie eh und je diesen falschen verniedlichenden Klang. Es waren viele Leute zu begrüßen, Beileidsbekundungen entgegen zu nehmen und vor allem Hände zu schütteln. Weil das seine Zeit brauchte, verwehte plötzlich der Kindheitsgeruch nach Haferschleim und Zitrusspülmittel die aktuellen In-Düfte der Parfüms, Deos und Aftershaves. Und die Großmutter sagte in ihrem Singsangdialekt von weiter rheinaufwärts, der immer gleichermaßen schimpfend und jammernd klang:
“Jib’ dat schöne Händsche, Daggi!”
Dieser und andere Sätze in diesem Zungenschlag waren seit dreißig Jahren eigentlich verstummt. Doch zu Zeiten häufig ausgesprochen blieben sie ohne Sinn im Verstand und in der Familie, bis der Letzte, dem sie zu Lebzeiten zu Ohren gekommen waren, gestorben sein würde. So oft ungefragt die Ratschläge erteilt worden waren, so oft sie geklagt, verurteilt und geprahlt hatte, Niemand konnte und mochte diese jammernde Schimpferei imitieren. Jeder bekam die rechte Hand und einen Gruß und Dank in der hiesigen raueren sprachweise. Und die Rechte war wie di Linke und wie die Füße klein geraten und wieder einmal durch Macken an den Nagelbetten und einen Riss an der Daumenwurzel nicht das schöne Händchen.
“Wenigstens muss erst mal nicht gewinkt werden. Dabei verpasse ich wohl immer noch den Einsatz, weil ein Abschiedswort noch lange keinen Abschiedsblick und keine Kehrtwende zum Gehen ist, blinde Kuh.”

“Es geht los, Daggi!” sagte Martha, die Älteste von den fünf, die Gertrud geboren hatte. “Also bei ihr unterhaken!” gedacht, nichts gesagt aber getan.
Der Weg zu dem Bereich für die anonymen Grabstätten war, wie man so sagt, ein gutes Stück Weg.
“Gehen hilft immer irgendwie!”
Martha unterhielt sich gedämpft mit Leuten, die vor und hinter ihr gingen. Und darum musste sie nicht Daggi sagen. So war es zumindest leicht, den eigenen Gedanken nachzugehen. – “Gehen hilft immer irgendwie!”
“Gertrud war wie Martha die Älteste zu Hause. – Zu Hause in Ostpreußen. – Zu Hause an der Bahnstrecke, wo abends dann irgendwann nicht mehr nur die Güterzüge und Viehtransporte nach Osten rollten. – Zu Hause, wo dann irgendwann auf den Güter- und Viehwagons Menschen Nach Osten abgeschoben wurden. – Zu Hause, wo dann noch später mit Menschen überladene Züge nach westen fuhren. – Zu Hause, von wo sich Gertrud dann ohne den Vater aber mit den Großeltern zu Fuß in den ungewissen Westen aufgemacht hatte. Und die beiden Kleinen, Renate und Oskar, waren auf der Strecke geblieben. – Gertrud war die einzige gewesen, die meistens Dagmar gesagt hatte. – voller Stolz, weil sie sich in diesem Fall gegen ihren Mann und ihre Schwiegermutter durchgesetzt hatte. Anders war es bei Martha.” Sie hieß wie die Jugendfreundin des Vaters. Martha empfand es als eine Zurücksetzung so zu heißen wie jemand, der im Alter von Anfang zwanzig tödlich mit dem Auto verunglückt war. Und Martha empfand es mit Mitte vierzig immer noch beleidigend, dass Dagmar Dagmar, also taghell, hieß.
“Es ist absourd jemanden taghell zu nennen, der im dunkelsten Winter geboren ist, und der nie gesehen hat und nie sehen wird, was taghell ist.”
“Und selbst, wenn das stimmte, gab es keinen triftigen Grund dafür der Namensgeberin und der Trägerin des Namens den Klang wegzunehmen und lebenslänglich mit diesem falschen und verniedlichenden Ton Daggi zu sagen.”

Schließlich erreichten sie den Platz, an dem Gertruds Urne beigesetzt werden sollte. Der Mandatar wartete bis alle Trauergäste sich in einen Halbkreis um das Urnengrab versammelt hatten. Dabei ließ sich ein Augenblick der Stille und des Stillstands nicht vermeiden. Und wenn Dagmar geistesgegenwärtig genug gewesen wäre und mit dem schönen Händchen, dem Linken, das von Herzen kommt, in die Luft gegriffen hätte, hätte sie wohl ein großes Stück von dem kleinen Glück aufgeschnappt, das die Natur einfachen, bodenständigen Leuten, die das Herz auf dem rechten Platz haben, bereit hält. So blieb ihr nur kurz festzustellen, dass Gertrud ihren Platz für die ewige Ruhe richtig gewählt hatte. Es war ein Ort mit Gras, Blumen und Bäumen. Es gab Plätze in ihrem Garten, die so waren. Wer nicht heimisch sein darf, muss sich heimisch machen. Dabei gibt es keine heile Welt. Dazu sind diese Plätze zu bescheiden. Und dazu musste man für so einen eigenen Platz zu oft, zu viel und zu hart arbeiten.

Der Trauerredner hielt eine kurze Rede. Dann folgte zumindest das Vater unser. Das Vater unser war wie das Gehen. Es hilft immer. In seiner Ungereimtheit auch Gertruds Leben näher als jedes Lied, waren die Worte dieses Gebetes so gesetzt, dass man sie wie bei jedem Gang rhythmisch so gestalten konnte, wie es gerade angemessen war. Auf die Länge und die rituelle Struktur war verzichtet worden, um falsche Gefühligkeit zu vermeiden. Was immer das auch sein mochte. Und es stimmte, dass Gertrud keine Kirchgängerin gewesen war. Sie war in den Garten gegangen, so lange sie konnte. Und ihren Garten hatte sie mit Kopf, Herz und Hand gepflegt und war damit bodenständig genug, um Herz und Seele nach oben und ganz weit offen zu haben. Und damit gehörte sie im unkonfessionellen Sinn zu den gläubigen Menschen. Und sie hatte gebetet.

Und was konnte auf dieses einfach und dennnnoch großartige Gebet folgen? Jeder Trauergast ging zum Urnengrab. In den letzten Tagen war viel und laut über die Beerdigung gesprochen worden. Und weil alle sich bemühten so laut und so schnell als möglich mitzureden, waren viele falsche Worte gefallen. Und sie alle hingen nach dem Vater unser plötzlich in der Sommerluft. Die Tränen, die auch bei Dagmar, die sie schlucken wollte, reichlich flossen, hatten sie nicht wegspülen können. Jeder ging allein an das Grab, auch wenn sie zu zweit an das Grab herantraten wie Martha und Dagmar. Plötzlich wurde Dagmar gewahr, dass sie vor einem Korb mit Blütenblättern stand. Und links neben diesem Korb, also an der Herzensseite war das Urnengrab. Auf die Blütenblätter und dieses Loch war Dagmar nicht vorbereitet gewesen. Darüber war in all der Zeit, die seit Gertruds Sterben verstrichen war, kein Wort verloren worden. Dagmar erinnerte sich daran, dass sie vor fast dreißig Jahren hier auf dem Friedhof aber an ganz anderer Stelle für die Großmutter einen Kranz in ein größeres Grab geworfen hatten. Und Gertrud hatte sich ihr anonymes Grab auch deshalb gewünscht, um nicht neben ihrer Schwiegermutter in das Doppelgrab zu müssen. “Was ist jetzt zu tun? – Hier geht es nicht um das schöne Händchen. – Wie viele Blütenblätter müssen es sein? – Achtundachtzig – Erst immer fünf und zuletzt drei!”! “Mensch, Daggi, was machst du denn da? Du hältst den ganzen Verkehr auf!”

Martha sprach leise, aber der ungeduldige Ton in ihrer Stimme war nur umso lauter zu hören.
“Nicht die Sonne, die Weite bringt es an den Tag!”
“Ich zähle die angemessene Zahl für Gertrud ab!”
“Für Gertrud?”
“Ja, für Gertrud, die mit dem Schwert vertraute. So hieß sie doch!”
“Aber warum sagst du Gertrud zu ihr, Daggi? Sie war unsere Mutter!”
“Ja, das auch!”
“Wie viele von den Blütenblättern meinst du denn zu brauchen?”
“Die fünfundsiebzig für jedes gelebte und erlebte Jahr habe ich schon! Also die viele Arbeit, der Kummer, die Sehnsucht, die Vertreibung, die Krankheiten und so sind schon bedacht!” “Und was kommt jetzt noch?”
Diese spitze Frage nahm Dagmar erst abends, als sie in ihrem Bett lag, wahr. Was sie aber in Echtzeit spürte, war Marthas wachsende Ungeduld. Sie hätte Dagmar gern stehen gelassen. Aber das traute sie sich nicht. Wenn sie sich wenigstens mit den anderen Trauergästen hätte verbünden können. Aber die warteten geduldig in gebührendem Abstand, weil sie Dagmars Tränen bemerkten und fühlten, dass alles seinen angemessenen Lauf für Dagmar und für Gertrud ging.
Und alles ging so gut als möglich.
“Fünfundsiebzig für jedes gelebte und erlebte Jahr, eins als Trostpflaster für jeden Kummer, eins zum Trost für die unerfüllte Sehnsucht, eins für die unerfüllte Liebe, eins für jede erlittene Ungerechtigkeit, eins als Lohn für jede Plackerei, eins für jede vergebliche Mühe, eins für jeden erlittenen Schmerz und für jede Krankheit. Und der Dank darf nicht fehlen, eins für jedes gute Wort, eins für die Zuverlässigkeit, eins für jede geübte Nachsicht, eins für die Liebe, die immer von Herzen kam, auch wenn sie immer nur ein praktisches Aussehen hatte, eins für die Mühe um Gerechtigkeit und eins für die Bemühung um Verständnis, was selten gelang aber nie aufhörte.”

(c) Paula Grimm / Kerken

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BLAutor – Arbeitskreis blinder und sehbehinderter Autoren – www.blautor.de

Veröffentlicht von Christiane Quenel I. A. Blautor

Mein Name ist Christiane Quenel. Als Autorin bin ich die Paula Grimm. Als Sprecherin des Arbeitskreises blinder und sehbehinderter Autorinnen und Autoren (BLautor) bin ich seit Ende 2021 auch verantwortlich für die Webseite von BLautor.